Man darf davon ausgehen, daß die meisten Menschen, die gerade massenhaft "gegen Rechts" auf die Straßen gehen, besorgt sind um die gesellschaftliche Entwicklung. Sollte es sich dabei um mehr als einen Reflex handeln, müßten einige Fragen gestellt werden.

Der da lobt, ist nicht mehr der "Verfassungsschutz-Chef", der sechs Jahre bis 2018 unter den Parteien amtierte, die heute auch sein Agieren bedrohlich finden. Der stellte seinen letzten "Verfassungsschutzbericht" in den »Fokus des islamistischen Terrorismus«. Der neue Präsident des Inlandsgeheimdienstes sieht die Hauptbedrohung im letzten Bericht 2022 so: »Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch die Sicherheitslage in Deutschland verändert«. In welchem Maße dabei jeweils ein Realitätscheck scheitern müßte, soll hier nicht das Thema sein. Deutlich wird jedenfalls die politische Instrumentalisierung. Was den Punkt "Rechtsextremismus" in den beiden Berichten angeht, ist eine Verschiebung von der Verharmlosung durch Maaßen zu einer realistischeren Einschätzung von Haldenwang zu sehen.
Keineswegs erstaunlich angesichts der Geschichte des VS – eher verblüfft die Ignoranz auf den Demonstrationen diesen Umstand betreffend – ist es, daß wie in allen Berichten zuvor der eigentliche Hauptfeind links steht. Im Haldenwang-Bericht heißt es:
»Linksextremismus
I. Überblick
Linksextremisten wollen die bestehende Staats- und Gesellschafts- ordnung und somit die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen. An deren Stelle soll ein kommunistisches System beziehungsweise eine „herrschaftsfreie“, anarchistische Gesellschaft treten – je nach ideologischer Ausrichtung mit dem Sozialismus als Übergangsphase. Themen wie „Antifaschismus“, „Antirepression“ oder „Antigentrifizierung“ sind dabei anlassbezogen relevante, letztlich aber austauschbare Aktionsfelder, die immer nur der Umsetzung der eigenen ideologischen Vorstellungen dienen. Um diese zu erreichen, sind Linksextremisten grundsätzlich auch bereit, Gewalt einzusetzen.
1. Entwicklungstendenzen
Das linksextremistische Personenpotenzial ist im Jahr 2022 um 1.800 auf nunmehr 36.500 Personen angewachsen, darunter 10.800 (2021: 10.300) gewaltorientierte Linksextremisten. Verantwortlich hierfür ist neben einem Anstieg im autonomen Spektrum ein erneuter Mitgliederzuwachs bei der „Roten Hilfe e.V.“. Die Zahl linksextremistisch motivierter Straftaten ging 2022 um rund 37,4 % zurück…«
Die markierte Passage schlägt heute zurück auf die Verfasser. Daß die "Rote Hilfe", eine linke Unterstützungsorganisation gegen staatliche Repression, für linke Gewalt verantwortlich gemacht wird, müßte wenigstens den politisch erfahrenen DemonstrantInnen zu denken geben, wenn ihnen Lob von Haldenwang widerfährt.
Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates
Mit diesem Stichwort haben Haldenwang und Faeser eine neue Kategorie der Bedrohung der FDGO erfunden:
»Mit Beginn der staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor der Coronapandemie im Jahr 2020 kam es in Deutschland zu breiten gesellschaftlichen Diskussionen und Demonstrationen gegen damit einhergehende Freiheitseinschränkungen.
Die von Einzelpersonen und Personenzusammenschlüssen öffentlich geäußerten Meinungen und Aktionen gingen in einigen Fällen jedoch über einen legitimen Protest hinaus und wiesen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen auf. Die in diesem Zusammenhang maßgeblichen Einzelpersonen und Personenzusammenschlüsse konnten allerdings in vielen Fällen weder strukturell noch ideologisch einem der Phänomenbereiche des Verfassungsschutzes zugeordnet werden. Um dieser neuen Herausforderung gerecht zu werden, hat das BfV im April 2021 den Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet.«
Die Vorwürfe, von vielen Linken goutiert, lesen sich sehr ähnlich wie die gegen die Linke:
»Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich oder rufen dazu auf, behördliche oder gerichtliche Anordnungen und Entscheidungen zu ignorieren.«
Früher einmal nannten Linke das "zivilen Widerstand", als sie Atomraketendepots, Naziaufmärsche oder Castortransporte blockierten. Viele von ihnen machen sich heute die Phrase zu eigen, ein solches Verhalten untergrabe »die demokratische Ordnung, indem es das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und so dessen Funktionsfähigkeit gefährdet«. Sie plapperten die Rede von "antisemitischen Verschwörungsmythen" nach und reiben sich nun die Augen, wenn jede kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Regierung und der Unterstützung durch "Deutschland" ganz ähnlich kriminalisiert wird.
"Alle gemeinsam gegen den Faschismus"
Dieser sehnsüchtige Slogan hat seine Grundlage in den Lehren der Geschichte. Insbesondere die großen Arbeiterparteien, aber auch der liberale Teil der Bourgeoisie, erkannten in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht die Gefahr, die von der NSDAP für sie alle ausging. Es gelang ihnen nicht, ihre klassen- und ideologischen Schranken, die durchaus berechtigt waren, in der Abwehr der Faschisten zu überwinden. Wie schwer diese Aufgabe war, macht ein Gedankenspiel vielleicht deutlich: Angenommen, wir stünden vor der Machtübernahme moderner Faschisten in Gestalt der AfD (das legt die correctiv-Schmonzette fälschlich so aus), dann hieße das, einen Schulterschluß mit Scholz und Faeser, Pistorius und sogar Lindner und Merz einzugehen.
Mindestens drei Beobachtungen sprechen gegen den genannten Slogan.
Erstens. Als faschistische Gefahr wird die Durchführung eines "Remigrations"-Konzepts dargestellt. Sieht man ab von der schmalen begrifflichen Basis – die Militarisierung der Politik findet dabei so wenig Beachtung wie die zunehmende Überwachung und der verschärfte Krieg gegen die "sozial Abgehängten" –, so bleibt festzustellen: Die AfD und andere Rechtsextreme sind Vorreiter von "Remigration", ihre Umsetzung betreiben die Regierenden. Unter der Überschrift "Liberale Schwerpunkte im Koalitionsvertrag" liest man auf fdp.de:
»Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben. Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern. Asylverfahren müssen fair, zügig und rechtssicher ablaufen. Die Ursachen für lebensgefährliche Flucht wollen wir wirksam bekämpfen. Wir wollen, dass Frontex auf Grundlage der Menschenrechte und des erteilten Mandats zu einer echten EU-Grenzschutzagentur weiterentwickelt wird.«
Wer denn den aufkommenden Faschismus in Hetze gegen MigrantInnen, Abschiebelagern und immer höheren und längeren Zäunen an der EU-Außengrenze sieht, muß sich gegen diese Politik wenden.
Zweitens. Neben der genannten Lehre aus der Erfahrung mit dem historischen Faschismus können wir inzwischen neue Erkenntnisse gewinnen. Ist es erfolgreich, mit den Regierenden zusammen gegen noch weiter rechts stehende Kräfte zu agieren? Die Entwicklung nicht nur in Frankreich zeigt, daß dies nicht so ist. Die Wahl von Macron, ermöglicht von vielen Linken, um Le Pen zu verhindern, hat weder dazu geführt, daß die Rechten geschwächt wurden, noch erst recht bewirkt, daß dieses Zugeständnis die Lage der MigrantInnen in Frankreich verbessert hätte oder Macron davon abgesehen hätte, das soziale Verelendungsprogramm zu stoppen. Bekanntlich gibt es neben den Menschen mit klarem Bekenntnis zu Rassismus auch diejenigen, die aus berechtigter Furcht vor sozialem Abstieg ihr Wahlkreuzchen bei rechten Rattenfängern machen, um es "denen da oben" zu zeigen. In Italien hat wahlpolitisch der Schmusekurs vieler Linker mit diversen vermeintlich antifaschistischen Regierungen zu einem Fiasko geführt. Hingegen gibt es in beiden Ländern erheblich soziale Widerstandsbewegungen, an denen die Linke bei klaren Analysen und Positionierungen ansetzen kann. (Übrigens ist mit der Wahl Melinis so wenig der Faschismus in Italien ausgebrochen wie mit dem Infektionsschutzgesetz in Deutschland, was von manchen CoronakritikerInnen befürchtet wurde.)
Drittens. Es ist zu fragen, wie ernst Regierende und Medien, die sich jetzt an Demonstrationen delektieren, ihre Bekenntnisse nehmen. Dabei hilft die Erinnerung an das Geschrei, das jeweils vor Wahlen einsetzte, um die Bedrohung durch Meloni und zuvor Berlusconi, Orbán und Erdogan, Trump und die polnische PIS zu beschreiben. Waren sie gewählt und hatten ihre Bekenntnisse gegen Flüchtlinge und Russen sowie die Weiterentwicklung des Neoliberalismus abgelegt, wurden sie zu ehrenwerten BündnispartnerInnen.
Wenn man beobachtet, mit welcher Hingabe in allen Medien die Demonstationen gefeiert werden, ja in den Nachrichten Orte und Termine bekanntgegeben werden, könnte man fast an ein Erschrecken und das Engagement für eine gute Sache glauben. Wäre da nicht die gleiche Inbrunst erinnerlich, mit der sie nicht regierungskonforme Positionen zur "Coronasolidarität", zur "Ukrainesolidarität", zur "Israelsolidarität" stigmatisierten und zugleich soziale Kämpfe als "drohend" und "die Wirtschaft" gefährdend niederschrieben. Auch ein gutes Stück Marketing ist neben Ablenkung von anderen politischen Problemen zu erkennen:. So wirbt die Deutsche Bahn auf Instagram:
Eine Reaktion ist folgerichtig nach der monatelangen Ausgrenzung von Menschen über 3G-Regeln:
Was genau ist noch mal Faschismus?
Update: Der VS-Chef heißt natürlich Haldenwang. Er wurde hier mehrfach falsch geschrieben. Sorry und danke für den Hinweis!
Kriegstüchtige Armee mittels Söldnertruppe: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024–01/bundeswehr-soldaten-staatsbuergerschaft-pistorius-strack-zimmermann-wadephul-personalmangel
Was haben die nur vor in fünf bis acht Jahren…?