Zertifizierter Antifaschismus

Man darf davon aus­ge­hen, daß die mei­sten Menschen, die gera­de mas­sen­haft "gegen Rechts" auf die Straßen gehen, besorgt sind um die gesell­schaft­li­che Entwicklung. Sollte es sich dabei um mehr als einen Reflex han­deln, müß­ten eini­ge Fragen gestellt werden.

tages​schau​.de (20.1.24)

Der da lobt, ist nicht mehr der "Verfassungsschutz-Chef", der sechs Jahre bis 2018 unter den Parteien amtier­te, die heu­te auch sein Agieren bedroh­lich fin­den. Der stell­te sei­nen letz­ten "Verfassungsschutz­bericht" in den »Fokus des isla­mi­sti­schen Terrorismus«. Der neue Präsident des Inlandsgeheimdienstes sieht die Hauptbedrohung im letz­ten Bericht 2022 so: »Der völ­ker­rechts­wid­ri­ge rus­si­sche Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch die Sicherheitslage in Deutschland ver­än­dert«. In wel­chem Maße dabei jeweils ein Realitätscheck schei­tern müß­te, soll hier nicht das Thema sein. Deutlich wird jeden­falls die poli­ti­sche Instrumentalisierung. Was den Punkt "Rechtsextremismus" in den bei­den Berichten angeht, ist eine Verschiebung von der Verharmlosung durch Maaßen zu einer rea­li­sti­sche­ren Einschätzung von Haldenwang zu sehen.

Keineswegs erstaun­lich ange­sichts der Geschichte des VS – eher ver­blüfft die Ignoranz auf den Demonstrationen die­sen Umstand betref­fend – ist es, daß wie in allen Berichten zuvor der eigent­li­che Hauptfeind links steht. Im Haldenwang-Bericht heißt es:

»Linksextremismus

I. Überblick
Linksextremisten wol­len die bestehen­de Staats- und Gesellschafts- ord­nung und somit die frei­heit­li­che demo­kra­ti­sche Grundordnung besei­ti­gen. An deren Stelle soll ein kom­mu­ni­sti­sches System bezie­hungs­wei­se eine „herr­schafts­freie“, anar­chi­sti­sche Gesellschaft tre­ten – je nach ideo­lo­gi­scher Ausrichtung mit dem Sozialismus als Übergangsphase. Themen wie „Antifaschismus“, „Antirepression“ oder „Antigentrifizierung“ sind dabei anlass­be­zo­gen rele­van­te, letzt­lich aber aus­tausch­ba­re Aktionsfelder, die immer nur der Umsetzung der eige­nen ideo­lo­gi­schen Vorstellungen die­nen. Um die­se zu errei­chen, sind Linksextremisten grund­sätz­lich auch bereit, Gewalt einzusetzen.

1. Entwicklungstendenzen
Das links­extre­mi­sti­sche Personenpotenzial ist im Jahr 2022 um 1.800 auf nun­mehr 36.500 Personen ange­wach­sen, dar­un­ter 10.800 (2021: 10.300) gewalt­ori­en­tier­te Linksextremisten. Verantwortlich hier­für ist neben einem Anstieg im auto­no­men Spektrum ein erneu­ter Mitgliederzuwachs bei der „Roten Hilfe e.V.“. Die Zahl links­extre­mi­stisch moti­vier­ter Straftaten ging 2022 um rund 37,4 % zurück…«

Die mar­kier­te Passage schlägt heu­te zurück auf die Verfasser. Daß die "Rote Hilfe", eine lin­ke Unterstützungsorganisation gegen staat­li­che Repression, für lin­ke Gewalt ver­ant­wort­lich gemacht wird, müß­te wenig­stens den poli­tisch erfah­re­nen DemonstrantInnen zu den­ken geben, wenn ihnen Lob von Haldenwang widerfährt.

Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Mit die­sem Stichwort haben Haldenwang und Faeser eine neue Kategorie der Bedrohung der FDGO erfunden:

»Mit Beginn der staat­li­chen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor der Coronapandemie im Jahr 2020 kam es in Deutschland zu brei­ten gesell­schaft­li­chen Diskussionen und Demonstrationen gegen damit ein­her­ge­hen­de Freiheitseinschränkungen.

Die von Einzelpersonen und Personenzusammenschlüssen öffent­lich geäu­ßer­ten Meinungen und Aktionen gin­gen in eini­gen Fällen jedoch über einen legi­ti­men Protest hin­aus und wie­sen tat­säch­li­che Anhaltspunkte für ver­fas­sungs­feind­li­che Bestrebungen auf. Die in die­sem Zusammenhang maß­geb­li­chen Einzelpersonen und Personenzusammenschlüsse konn­ten aller­dings in vie­len Fällen weder struk­tu­rell noch ideo­lo­gisch einem der Phänomenbereiche des Verfassungsschutzes zuge­ord­net wer­den. Um die­ser neu­en Herausforderung gerecht zu wer­den, hat das BfV im April 2021 den Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet.«

Die Vorwürfe, von vie­len Linken gou­tiert, lesen sich sehr ähn­lich wie die gegen die Linke:

»Die Akteure die­ses Phänomenbereichs zie­len dar­auf ab, wesent­li­che Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu set­zen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder sei­ner Einrichtungen zu beein­träch­ti­gen. Sie machen demo­kra­ti­sche Entscheidungsprozesse und Institutionen ver­ächt­lich oder rufen dazu auf, behörd­li­che oder gericht­li­che Anordnungen und Entscheidungen zu ignorieren.«

Früher ein­mal nann­ten Linke das "zivi­len Widerstand", als sie Atomraketendepots, Naziaufmärsche oder Castortransporte blockier­ten. Viele von ihnen machen sich heu­te die Phrase zu eigen, ein sol­ches Verhalten unter­gra­be »die demo­kra­ti­sche Ordnung, indem es das Vertrauen in das staat­li­che System ins­ge­samt erschüt­tert und so des­sen Funktionsfähigkeit gefähr­det«. Sie plap­per­ten die Rede von "anti­se­mi­ti­schen Verschwörungsmythen" nach und rei­ben sich nun die Augen, wenn jede kri­ti­sche Auseinandersetzung mit der israe­li­schen Regierung und der Unterstützung durch "Deutschland" ganz ähn­lich kri­mi­na­li­siert wird.

"Alle gemeinsam gegen den Faschismus"

Dieser sehn­süch­ti­ge Slogan hat sei­ne Grundlage in den Lehren der Geschichte. Insbesondere die gro­ßen Arbeiterparteien, aber auch der libe­ra­le Teil der Bourgeoisie, erkann­ten in den drei­ßi­ger Jahren des letz­ten Jahrhunderts nicht die Gefahr, die von der NSDAP für sie alle aus­ging. Es gelang ihnen nicht, ihre klas­sen- und ideo­lo­gi­schen Schranken, die durch­aus berech­tigt waren, in der Abwehr der Faschisten zu über­win­den. Wie schwer die­se Aufgabe war, macht ein Gedankenspiel viel­leicht deut­lich: Angenommen, wir stün­den vor der Machtübernahme moder­ner Faschisten in Gestalt der AfD (das legt die cor­rec­tiv-Schmonzette fälsch­lich so aus), dann hie­ße das, einen Schulterschluß mit Scholz und Faeser, Pistorius und sogar Lindner und Merz einzugehen.

Mindestens drei Beobachtungen spre­chen gegen den genann­ten Slogan.

Erstens. Als faschi­sti­sche Gefahr wird die Durchführung eines "Remigrations"-Konzepts dar­ge­stellt. Sieht man ab von der schma­len begriff­li­chen Basis – die Militarisierung der Politik fin­det dabei so wenig Beachtung wie die zuneh­men­de Überwachung und der ver­schärf­te Krieg gegen die "sozi­al Abgehängten" –, so bleibt fest­zu­stel­len: Die AfD und ande­re Rechtsextreme sind Vorreiter von "Remigration", ihre Umsetzung betrei­ben die Regierenden. Unter der Überschrift "Liberale Schwerpunkte im Koalitionsvertrag" liest man auf fdp​.de:

»Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann blei­ben. Wir star­ten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen kon­se­quen­ter umzu­set­zen, ins­be­son­de­re die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern. Asylverfahren müs­sen fair, zügig und rechts­si­cher ablau­fen. Die Ursachen für lebens­ge­fähr­li­che Flucht wol­len wir wirk­sam bekämp­fen. Wir wol­len, dass Frontex auf Grundlage der Menschenrechte und des erteil­ten Mandats zu einer ech­ten EU-Grenzschutzagentur wei­ter­ent­wickelt wird.«

Wer denn den auf­kom­men­den Faschismus in Hetze gegen MigrantInnen, Abschiebelagern und immer höhe­ren und län­ge­ren Zäunen an der EU-Außengrenze sieht, muß sich gegen die­se Politik wenden.

Zweitens. Neben der genann­ten Lehre aus der Erfahrung mit dem histo­ri­schen Faschismus kön­nen wir inzwi­schen neue Erkenntnisse gewin­nen. Ist es erfolg­reich, mit den Regierenden zusam­men gegen noch wei­ter rechts ste­hen­de Kräfte zu agie­ren? Die Entwicklung nicht nur in Frankreich zeigt, daß dies nicht so ist. Die Wahl von Macron, ermög­licht von vie­len Linken, um Le Pen zu ver­hin­dern, hat weder dazu geführt, daß die Rechten geschwächt wur­den, noch erst recht bewirkt, daß die­ses Zugeständnis die Lage der MigrantInnen in Frankreich ver­bes­sert hät­te oder Macron davon abge­se­hen hät­te, das sozia­le Verelendungsprogramm zu stop­pen. Bekanntlich gibt es neben den Menschen mit kla­rem Bekenntnis zu Rassismus auch die­je­ni­gen, die aus berech­tig­ter Furcht vor sozia­lem Abstieg ihr Wahlkreuzchen bei rech­ten Rattenfängern machen, um es "denen da oben" zu zei­gen. In Italien hat wahl­po­li­tisch der Schmusekurs vie­ler Linker mit diver­sen ver­meint­lich anti­fa­schi­sti­schen Regierungen zu einem Fiasko geführt. Hingegen gibt es in bei­den Ländern erheb­lich sozia­le Widerstandsbewegungen, an denen die Linke bei kla­ren Analysen und Positionierungen anset­zen kann. (Übrigens ist mit der Wahl Melinis so wenig der Faschismus in Italien aus­ge­bro­chen wie mit dem Infektionsschutzgesetz in Deutschland, was von man­chen CoronakritikerInnen befürch­tet wurde.)

Drittens. Es ist zu fra­gen, wie ernst Regierende und Medien, die sich jetzt an Demonstrationen delek­tie­ren, ihre Bekenntnisse neh­men. Dabei hilft die Erinnerung an das Geschrei, das jeweils vor Wahlen ein­setz­te, um die Bedrohung durch Meloni und zuvor Berlusconi, Orbán und Erdogan, Trump und die pol­ni­sche PIS zu beschrei­ben. Waren sie gewählt und hat­ten ihre Bekenntnisse gegen Flüchtlinge und Russen sowie die Weiterentwicklung des Neoliberalismus abge­legt, wur­den sie zu ehren­wer­ten BündnispartnerInnen.


Wenn man beob­ach­tet, mit wel­cher Hingabe in allen Medien die Demonstationen gefei­ert wer­den, ja in den Nachrichten Orte und Termine bekannt­ge­ge­ben wer­den, könn­te man fast an ein Erschrecken und das Engagement für eine gute Sache glau­ben. Wäre da nicht die glei­che Inbrunst erin­ner­lich, mit der sie nicht regie­rungs­kon­for­me Positionen zur "Coronasolidarität", zur "Ukrainesolidarität", zur "Israelsolidarität" stig­ma­ti­sier­ten und zugleich sozia­le Kämpfe als "dro­hend" und "die Wirtschaft" gefähr­dend nie­der­schrie­ben. Auch ein gutes Stück Marketing ist neben Ablenkung von ande­ren poli­ti­schen Problemen zu erken­nen:. So wirbt die Deutsche Bahn auf Instagram:

Eine Reaktion ist fol­ge­rich­tig nach der mona­te­lan­gen Ausgrenzung von Menschen über 3G-Regeln:

Was genau ist noch mal Faschismus?

Update: Der VS-Chef heißt natür­lich Haldenwang. Er wur­de hier mehr­fach falsch geschrie­ben. Sorry und dan­ke für den Hinweis!

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