Sollte er nicht nur dumm sein, dann lügt er zumindest dreist:

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- Der Massenmord an den Juden und Jüdinnen begann nicht erst mit der Wannseekonferenz. Das könnte Lauterbach, der auch aus anderen Studien höchstens den Abstract zur Kenntnis nimmt, der Zusammenfassung des Artikels der Bundeszentrale für politische Bildung entnehmen:
»Am 20. Januar 1942 trafen sich hochrangige Vertreter des NS-Regimes in einer Villa am Berliner Wannsee, um zu koordinieren, wie die Ermordung der europäischen Juden auf Behördenebene möglichst effizient umgesetzt werden sollte. Das systematische Morden war da bereits von der NS-Führung beschlossen und in vollem Gange. Bis zum Kriegsende 1945 wurden über sechs Millionen Juden ermordet…
Der Völkermord an den europäischen Juden hatte bereits im Juni 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion begonnen. Dort führten mobile Einsatztruppen der SS Massenerschießungen und – ab Dezember 1941 – Vergasungen von Juden durch…«
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- "Alles angefangen" trifft eher zu auf die Machtübergabe der bürgerlichen Parteien an Adolf Hitler am 30. Januar 1933, spätestens aber auf die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.33. Der auch von der SPD ins Amt gebrachte Paul von Hindenburg hatte damit wesentliche Grundrechte der Verfassung suspendiert und die Rechtsgrundlage für die Internierung tausender NazigegnerInnen geschaffen. Immerhin stimmte die SPD-Fraktion als einzige nicht dem Ermächtigungsgesetz vom 24.3.33 zu. Die bürgerlichen Parteien, namentlich der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, votierten für die Abschaffung des parlamentarischen Systems in Deutschland. Die Abgeordneten der KPD saßen bereits in Haft oder mußten untertauchen.
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- In den 90 Minuten, die die Wannseekonferenz dauerte, waren nicht geheime Hinterzimmer-Nazis am Werk, sondern hoch effizient arbeitende Vertreter von Regierungsstellen, nicht wenige von ihnen promoviert.
Die Lügen Lauterbachs treffen auf ein Publikum, das wenig von der Geschichte zu wissen scheint. Da wird Faschismus reduziert auf die Vernichtung der Juden und Jüdinnen. 20 Millionen Tote in der Sowjetunion kommen dort nicht vor, und nur am Rande andere Bevölkerungsgruppen, die dem mörderischen Wahn der Nazis zum Opfer fielen. Von Gleichschaltung sämtlicher Medien und der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung mag man gehört haben, Parallelen will man jedoch nur bei der AfD sehen.
Richtig ist, daß die völkisch-nationalistischen Töne bei der AfD vernehmbarer sind als bei anderen Parteien. Ihre ideologische Fixierung auf die (deutsche) Kleinfamilie und die Hetze gegen alle Lebensformen, die davon abweichen, finden ihre Entsprechung eher bei der PIS, Viktor Orbán oder Vladimir Putin als im deutschen Mainstream. Scheinbare Paradoxien wie eine lesbische Parteivorsitzende sind damit vereinbar, was auch für den offen homosexuellen ehemaligen Berliner CDU-Funktionäre Peter Kurth gilt, der laut "Spiegel" ebenfalls Treffen mit Martin Sellner und dem EU-Spitzenkandidaten der AfD, Maximilian Krah, organisiert haben soll.
Richtig ist aber auch, wenngleich ebenfalls teilweise paradox, daß in der Verantwortung aller Parteien außer der AfD, die mangels Regierungsbeteiligung dazu nichts beitragen konnte, und mit Karl Lauterbach als einer führenden Kraft in den letzten Jahren eine Entdemokratisierung des gesellschaftlichen Lebens stattgefunden hat, die Wasser auf die Mühlen der AfD leitet. Die lang anhaltende Aussetzung demokratischer Rechte durch ein "Infektionsschutzgesetz", das zu Ermächtigungen von MinisterpräsidentInnen in unglaublichem Ausmaß und mit grotesken Begleiterscheinungen führte, das nahezu umfassende Framing von Protest als rechts und demokratiefeindlich, verbunden mit einem nie gesehenen Gleichklang der veröffentlichten Meinung und Zensurmaßnahmen in großem Stil führen zu einer Abwendung weiter Teile der Bevölkerung von dem, was ihnen als "parlamentarische Demokratie" verkauft wird. Da sich an dieser Verkaufsveranstaltung auch die wahrnehmbare Linke beteiligt, erscheint die Rechte als einzige Opposition. Auch ein "Bündnis Ludwig Erhard", das die Kritik aufgreift, aber neben schwammigen Formulierungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Kernaussagen der AfD vertritt und sich keinesfalls als links versteht, wird an diesem Trend nichts ändern.
Dabei gibt es durchaus soziale Bewegungen gegen Teuerung und Inflation, nicht nur die großen Streiks von Metallarbeitern und Bahnbeschäftigten. Seit fast zwei Wochen streiken die Angestellten des Jüdischen Krankenhauses in Berlin für einen Entlastungstarifvertrag. Es gab Fototermine mit Janine Wissler von der Linkspartei und Ricarda Lang von den Grünen. Doch während Konservative und Rechte es verstehen, etwa die Bauernproteste für eine Generalabrechnung mit der Bundesregierung zu nutzen, bleibt die Linke hier zurückhaltend. Ähnlich steht es mit den Aktionen gegen die Sparmaßnahmen des Berliner Senats, von denen allein im Bezirk Mitte mehr als 100 Einrichtungen der Schul‑, Freizeit- und Familieneinrichtungen betroffen sind. Da wird ein wenig gegreint, daß etwa "Antisemitismus-Prävention" die Grundlage entzogen wird.
Viele Fragen, die nur einer hören will, der stören will
Läge es nicht nahe, Lauterbach mit seiner asozialen Gesundheitspolitik vorzuführen? Wäre eine Erinnerung an die griffige Parole "Bildung statt Bomben" in einer Zeit militaristischer Mobilisierung und grandioser Vernichtung von Steuergeldern in Form des "Sondervermögens" für Bundeswehr und Rüstungsindustrie nicht erfolgversprechend? Könnte ein Hinweis auf die Abermilliarden Euro, die die Corona-Politik in die Kassen der Pharmakonzerne spülte, nicht deutlich machen, wo die Grenze zwischen oben und unten verläuft? Müßte nicht die Frage gestellt werden, ob mit der bei Corona erprobten Einführung digitaler Zertifikate für die Ausübung von Grundrechten, mit der elektronischen Patientenakte und der Nutzung ihrer Daten durch die Pharmaindustrie, die beständige Verschärfung von Polizeigesetzen, die Ausweitung von Videoüberwachung, das Anlegen von "Gefährderregistern" bei gleichzeitiger Verengung des "Meinungskorridors", egal ob zu den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, der Coronapolitik oder den Streik-"Drohungen" von Gewerkschaften, Schritte in Richtung eines modernen Faschismus gemacht werden? Vermutlich wird er weniger von Lagern geprägt sein, außer für unerwünschte MigrantInnen, sondern von digitalen Fesseln für Füße und Hirne. Wahrscheinlich wird er ein freundlicheres Antlitz haben, der die Fratzen der Höckes nutzt, um aufzuzeigen: Wir können auch anders. Nutznießer werden allemal die Konzerne sein, auch wenn sie sich gerade besorgt geben um den Standort und die Zufuhr ausländischen Menschenmaterials, das ihre Profite mit Autos, Spritzen und neuerdings "grünen" Wegwerfprodukte sicherstellen soll.
Der gute alte Degenhardt hat das schöne Lied "Wölfe mitten im Mai" gedichtet, dem die letzte Zwischenüberschrift entnommen ist:
Quelle: genius.com
Den vielen Menschen, die sich wohl mit besten Absichten von Lauterbach instrumentalisieren lassen, sei das Bonmot von Max Horkheimer aus dem Jahr 1939 empfohlen (Lauterbach würde den Satz nicht verstehen):
»Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen«