Dieser Beitrag vom 27.8.20 auf corodok.de ist nach wie vor aktuell:
Die wichtigsten Vorwürfe, mit denen Bewegungen von unten seit jeher konfrontiert werden, sind:
-
-
- Sie sind gewaltbereit oder distanzieren sich zu wenig von Gewalt.
- Sie sind verfassungsfeindlich oder arbeiten mit Verfassungsfeinden zusammen.
- Sie sind antisemitisch oder kritisieren die Politik des Staates Israel.
-
Gerade Linke können wissen, daß diese Standards genutzt wurden gegen die Friedensbewegung, gegen die Anti-Braunkohle-Aktiven, zur Diskreditierung der frühen Schwulenbewegung, gegen Verständigungbestrebungen im Nahen Osten, gegen Initiativen zum Schutz von MieterInnen und so weiter und so fort. Neben den "Erkenntnissen" des Inlandgeheimdienstes Verfassungsschutz werden auch gerne und zunehmend selbsternannte und gut finanzierte Recherchegruppen genutzt, die heute bevorzugt "Faktenchecker" genannt werden.
Wie läßt sich herausfinden, wo die Vorwürfe berechtigt und wo sie nur Propaganda sind?
Es wäre unsinnig zu bestreiten, daß es unter den Menschen in Bewegungen Gewaltbereite, Verfassungsfeinde und Antisemiten gibt, wobei die Probleme der Definition der Begriffe hier außer Acht gelassen werden.
Es gibt sie in jedem Kirchenchor, in den Gewerkschaften, in Sportvereinen. Die Frage muß sein, ob sie damit den Charakter der Organisationen bestimmen. In den Gewerkschaften gibt es eine erhebliche Zahl von rechts denkenden und wählenden Mitgliedern, ja sogar von RassistInnen. Niemand käme auf die Idee, sie deshalb als Nazi-Organisation zu bezeichnen. Würde ver.di einen Streik abblasen, weil sich unter den Streikenden AfD-Mitglieder befinden oder die NPD zur Unterstützung aufriefe?
Man mag einwenden, die Gefahr bestehe nicht. Und würde sich damit täuschen. Denn schon die NSDAP und die italienischen Faschisten hatten Phasen (und Flügel), die sich propagandistisch an die Arbeiterbewegung anlehnten. Und auch die AfD diskutiert darüber, wie sie in der Krise den Unmut von ArbeiterInnen und Angestellten in ihre rassistischen Bahnen lenken kann.
Es gibt einen gewichtigen Unterschied, wenn wir uns heute die "Anti-Corona-Bewegung" ansehen. Während bei den Gewerkschaften programmatisch Rassismus ausgeschlossen ist, gibt es bei den OrganisatorInnen der aktuellen Bewegung für "Frieden und Freiheit" keine klare inhaltliche Abgrenzung zu FaschistInnen. Es kann nicht darum gehen, daß sie eine gedankenpolizeiliche Prüfung von Demonstrations-TeilnehmerInnen vornehmen. Zu erwarten wäre, daß sie sich von der Unterstützung durch AfD, NPD und andere Rechtsradikale distanzierten, wie das ver.di im oben genannten Beispiel sicher täte. Was hindert sie daran, wenn sie nicht unausgesprochen hier doch Bündnispartner sehen?
Nach dieser Kritik ist aber zu fragen:
Wird die "Anti-Corona-Bewegung" geprägt von Nazis?
Das behaupten ja die meisten Medien, die Linkspartei, der Berliner Polizeipräsident und Teile der Antifa. Wenn sich die Veranstalter auch auf ihn berufen, ist der Verfassungsschutz kein zuverlässiger Zeuge. Er hat der Demonstration vom 1.8. attestiert, daß Rechte dort keinen prägenden Einfluß hatten (s. Verfassungsschutz: Wenige Rechtsextreme bei Corona-Demo). Anstatt sich auf dieses Urteil zu verlassen – weiß man, welche Provokateure er demächst einzuschleusen gedenkt? – sollte man sich die zahllosen Bilder und Videos über die Demonstration ansehen.
Vor allem sollte geprüft werden, wer die AufruferInnen sind und mit welchen Inhalten sie agieren. Sie sind gewiß nicht links im Sinne von antikapitalistisch. Das sind aber die Bewegungen zu Krieg und Frieden, zur Klimapolitik, von Black Lives Matter etc. ebenso wenig – wenn es dort auch linke Flügel gibt.
Gibt es für die Partei die Linke etwa Anhaltspunkte dafür, daß hier eine "Pegida-ähnlichen Straßenbewegung" entstehe? Pegida ist eine offen völkische und rassistische Bewegung. Wer hier mitläuft, hat zumindest Verständnis für Morde an Menschen, die aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihres Aussehens nicht in unser Land gehörten.
Man kann mit einigem Recht die Aufrufe der VeranstalterInnen für schwammig halten, ihnen bei der Verwendung von Begriffen wie Corona-Diktatur eine (unbeabsichtigte?) Verharmlosung von real existierenden Terror-Regimen vorhalten und einiges mehr kritisieren. Für eine Parallele zu Pegida geben sie nichts her. Es ist infam, eine Handvoll Reichsfahnen (die besser aus den Demos verschwänden) zum Beleg für die Ausrichtung einer ganzen Demo zu machen. Damit beschreitet man den gleichen Weg wie diejenigen, die aus dem Wurf einer Plastikflasche eine gewalttätige Veranstaltung konstruieren, mag der Werfer ein wirklicher Demonstrant oder ein eingeschleuster Provokateur sein.
"Solidarität heißt Maskentragen"
Der wirkliche Kern im Aufruf der Linkspartei zu Gegenaktionen liegt in diesen Worten:
»Widersprecht den Lügner*innen und ihrer Verharmlosung der Pandemie!
Ein Hinweis: Wir verhalten uns solidarisch. Bringt also bitte Masken mit und achtet auf Abstand!«
Solidarität bedeutet Maskentragen im Kampf gegen die "Verharmlosung der Pandemie". Es ist zweifellos legitim, von einer Pandemie auszugehen, sie zu fürchten und sich auf dieser Grundlage gegen deren Verharmlosung auszusprechen. Das gilt ganz unabhängig von der Richtigkeit der Annahme und von der Frage, was daran links sein könnte. Wer eine "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" sieht, ist berechtigt, sich mit Aktionen gegen DemonstrantInnen zu stellen, die diese Gefahr nicht wahrhaben wollen.
Doch das tut die Linkspartei nicht. Wohl wissend, daß sie ihre AnhängerInnen nicht für das Recht auf Maske oder die sonstigen Maßnahmen der Regierung (per Notstandsverordnung an Parlamenten vorbei) in Bewegung setzen könnte, greift sie zu einem Trick. Sie erklärt die andere Seite nicht nur zu "Lügner*innen", sondern definiert sie um zu
»Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungserzählungen, Rassistinnen und Rassisten, Islamfeindinnen und Islamfeinde, Antisemitinnen und Antisemiten, Holocaustleugnerinnen und Holocaustleugner sowie extreme Rechte von AfD, NPD bis hin zu Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern, III. Weg und Nazihools«.
Sie argumentiert mit keinem einzigen Wort für ihre Position oder gegen die der Anderen. Denn daß sie "ohne Rücksicht auf Gefährdete" handelten, ist angesichts des vielfach beobachteten Null-Einflusses von Demonstrationen auf das Infektionsgeschehen nichts anderes als eine boshafte Unterstellung.
Nur mit der an keiner Stelle belegten Behauptung der Massen von zu erwartenden Nazis kann die Mobilisierung für die Regierungsmaßnahmen funktionieren. Es wurde hier bereits darauf verwiesen, daß die Berliner Linkspartei ohne Klagen Innensenator Geisel gestattete, 2017 und 2018 einen Gedenkmarsch von Hardcore-Nazis für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß unter schwarz-weiß-roten Fahnen mit Polizeigewalt zu schützen. Damals nicht und niemals in ihrer Geschichte hat die Linkspartei einen Aufruf ihres Vorstands mit derart umfangreichen Aktionen gestartet wie jetzt für den 29.8.