Daß Rechte rechts seien, sei bloß eine Zuschreibung, und Ausgrenzung gehe überhaupt nicht, so lautete mancher Kommentar zu einem Beitrag auf corodok.de am 4.9.20 unter obigem Titel. Es hieß dort:
So tönte jedoch der AfD-Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller auf einer rechten Kundgebung vor dem Brandenburger Tor am 30.8. Zuvor hatte er betont, daß "wir hier das Volk sind", Leute, die einfach nur zusammengekommen sind, "um für die Freiheit zu kämpfen". Und weiter:
»Deutsch ist eine Überzeugung… Was uns hier zusammenführt ist der Kampf um die Menschenrechte, die uns nach dem Grundgesetz garantiert sind… Wir sind hier, um die Demokratie gegen diese Corona-Diktatur zu ver-tei-di-gen!«
Mit sich sich überschlagender Stimme fährt er fort:
»Ich grüße all die Millionen hier in Berlin, die man auf 38.000 nicht runterrechnen kann… Wir sind die Demokraten…, wir sind die Guten, die Regierung die Bösen, und das muß man ganz klar in das Volk, die Bevölkerung hineintragen…
Wenn ich mir anschaue, wir waren weit über eine Million Menschen auf der Straße, die Luftbilder beweisen das ganz klar, wir 99% Bürger aus der Mitte der Gesellschaft haben 0,0 mit Extremisten, Chaoten oder Nazis zu tun… Ich frage die Staatsmacht, wer sind die agents provocateurs, wer sind die Provokateure, die Ihr dahin geschickt habt, um uns, die Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, zu diskreditieren?«
Einen sollte er kennen. Die rechte Junge Freiheit teilt mit:
»Das Junge-Alternative-Mitglied namens Gavin Singer, das sich laut Medienberichten daran beteiligt haben soll, im Zusammenhang mit der großen Demonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen in das Reichstagsgebäude zu gelangen, hat seine Mitgliedschaft in der Jugendorganisation der AfD beendet. Ihm sei bewußt, daß sein Handeln Konsequenzen für die Junge Alternative habe und er nicht in deren Sinne gehandelt habe.«
Das kommt davon, wenn weite Teile der Mitgliedschaft aus V‑Leuten des Verfassungsschutzes bestehen. Man kennt dieses Zusammenwachsen bereits von der NPD und dem NSU und fragt sich erneut, wer hier wen unterwandert.
Artikel 146 GG und Friedensvertrag
Müller zitiert Artikel 146 GG:
»"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Das ist keine Reichsbürgerforderung, das ist eine 100%-ige Forderung aus unserem Grundgesetz…
Wir brauchen vorher ein Fundament, ich hörte es schon von Euch: Zuerst müssen wir schließen für Deutschland einen Frie-dens-ver-trag!…
Weil das Kriegsende inzwischen 75 Jahre zurückliegt, hat unser Recht, hat unser Land inzwischen Recht, haben wir Menschen ein Recht, ein Menschenrecht auf einen Friedensvertrag, auf Augenhöhe abgeschlossen mit den alliierten Siegern, nicht unterwürfig, sondern auf Augenhöhe abgeschlossen.«
Von Herrn Ballweg so gehört
»Ich habe diese Forderung… so aufgenommen, ich habe das gestern ja auch von Herrn Heinzen* und von Herrn Ballweg so gehört und hab' gesagt, jetzt führen wir das noch mal ein bisschen weiter, was die gesagt haben, weil, ich sag's noch mal: Ich bin hier nicht als Abgeordneter einer Partei, ich bin hier als Abgeordneter, der das ganze Volk vertreten möchte, und Ballweg und Heinzen und alle hier wir-sind-das-Volk, und noch einmal wir-sind-das-Volk!…
Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht Rechtsnachfolger der Deutschen Reiches… Ja, mit wem setzen sich dann die alliierten Sieger an einen Tisch, um diesen Friedensvertrag zu behandeln? Mit Sicherheit nicht mit diesen Knalltüten dahinten aus dem Kanzleramt, weil die dazu nicht berechtigt sind… Die Bundesregierung ist nicht berechtigt, diesen Friedensvertrag zu verhandeln!…
Wir verhandeln auf Augenhöhe! Nach 75 Jahren reicht es! Wir Deutschen laufen nicht mehr mit gesenktem Kopf rum!…
Ich habe ein komplettes Konzept in der Schublade liegen… Ich biete Herrn Heinzen, Herrn Ballweg gerne an, auf meine Vorarbeiten zurückzugreifen; ich werde auf die Herren zugehen, wir müssen zusammenhalten, wir müssen doch das Rad nicht mehr neu erfinden! Wir haben es schon erarbeitet und gemeinsam setzen wir das jetzt um. Die Zeit des Redens ist vorbei! Wir handeln!«
Wird Ballweg vereinnahmt?
Michael Ballweg wird nicht müde, der Öffentlichkeit zu vermitteln: Querdenken hat mit Reichsbürgern und Rechtsextremen nichts am Hut. Die laufen halt mit in den Demos, was soll man da machen?
Wie paßt dazu, daß Müller seine Rede auf der offiziellen Bühne von Querdenken713 halten konnte? Die Situation wirkt nicht so, als habe er sie gekapert oder heimlich zweckentfremdet (s. z.B. dieses Video, ca. Min. 2.30, das allerdings nur den Ausschnitt einer bunten, tanzenden Menge zeigt). Selbst wenn die Rede nach Abschluß der offiziellen Querdenken-Kundgebung gehalten wurde, stehen Bühne und Tontechnik offenbar fast eine halbe Stunde dem AfD-Agitator zur Verfügung.
Auf dem rechten Auge blind
Schlicht unwahr ist diese Behauptung Ballwegs zu Reichsflaggen auf seiner Kundgebung vom 29.8.:
»Da haben wir die Ordner-Deeskalations-Teams auch hingeschickt und haben die Menschen dazu mal befragt, ob sie denn wissen, was das für eine Flagge ist. Von vielen Teilnehmern haben wir gehört, dass diese Flaggen verteilt wurden und dass sie gar nicht wissen, wofür diese Flagge steht. In der Bundespressekonferenz wurde ja bestätigt, dass auch V‑Leute unterwegs waren…Die Deeskalations-Teams haben mit den Teilnehmern geredet, die die Flaggen hatten. Die haben die dann auch runtergenommen, weil sie eben nicht wussten, wofür die standen…
Ich habe keine Rechtsextremen gesehen. Ich habe von der Bühne gesehen, dass eine Israelflagge da war. Wir hatten sogar auf unserer Bühne jemanden, der auf Hebräisch die Abstandsregeln durchgegeben hat. Ich habe ein breites Spektrum von Menschen gesehen. Sie kennen ja die Gaußsche Normalverteilung, da gibt es rechts und links an beiden Rändern immer ganz wenige Teilnehmer. Und wie es der Verfassungsschutz bestätigt hat, ist es weder den Linken noch den Rechten gelungen, unsere Versammlung maßgeblich zu beeinflussen.«
Zahllose Fotos und Videos zeigen auf der Straße des 17. Juni, wie Träger von Reichsflaggen, sogar mit dem militaristischen preußischen Adler, ungehindert durch die Kundgebung flanieren. Zu Linken hat der Verfassungsschutz gar nichts gesagt (schließlich gab es sie dort nicht), und Ballwegs Zitat bezieht sich auf die Demo vom 1.8., als Reichsbürger und andere Rechtsextreme noch nicht so offen und zahlreich vertreten waren wie am 29.8. Ballweg hat ja auch nicht wirklich etwas gegen Reichsflaggen, und das hat Gründe.
»Gut, aber jetzt auch die Frage der Reichsflagge. Es wird behauptet, es wäre rechtsextrem. Wenn sie rechtsextrem wäre, dann wäre sie so klassifiziert… Jetzt einfach zu sagen: Diese Flagge bedeutet, jemand ist rechtsextrem, finde ich falsch, weil wenn es so wäre, dann gäbe es eine offizielle Bestätigung davon vom Verfassungsschutz oder sie wäre verboten.«
Es gibt keine Abgrenzung von der militaristischen und kolonialistischen Tradition des Symbols. Daß sie in der Weimarer Republik neben dem Hakenkreuz DAS Erkennungszeichen der Feinde der Republik war, muß Ballweg wissen. Es wäre ein Leichtes, hier deutliche Worte zu finden. Statt dessen verschanzt er sich hinter dem Verfassungsschutz.
Er will diese Fahnen nicht verbannen, weil er ihre Grundidee sympathisch findet (s. Ballweg outet sich). Sein "Fest für Freiheit und Frieden" bekommt im Kontext der Rede des AfD-Mannes und zahlloser TeilnehmerInnen aus dem Reichsbürgerspektrum eine neue Bedeutung. Wie gelangt der Friedensbegriff in eine Demonstration gegen die "Corona-Maßnahmen"? Was so klingt, als solle die Buntheit und Friedfertigkeit unterstrichen werden, erscheint nun als ein Vorgriff auf die rechte Argumentation des Friedensvertrags und der angeblich fehlenden Souveränität des deutschen Volkes.
Wieviel Antisemitismus ist vertretbar?
Angesprochen auf vermutete AntisemitInnen auf seiner Demo sagt Ballweg:
»Habe ich doch gesagt: Rechts, links, antisemitisch, gewalttätig entspricht alles nicht unserer Bewegung. Da distanzieren wir uns davon. Ich selber war oft in Israel, habe dort schöne Tage erlebt. Aber auch das ist ja jetzt wieder so ein Spaltungsversuch, dass man einfach versucht zu sagen, die Bewegung ist antisemitisch. Antisemitisch wäre sie, wenn 80 Prozent oder 50 Prozent der Teilnehmer sich dazu offen äußern würden.«
Ein weiteres Video** zeigt die offizielle Querdenken-Aktion "Deutschland erhebt sich" vom 30.8. Das paßt.
Alles Gesagte kann nicht bedeuten, vom Protest gegen die Corona-Maßnahmen abzulassen. Er bleibt berechtigt und notwendig, weil viele Kinder, Alte, Verarmende in unserem Land durch sie ebenso zu Opfern wurden und werden wie vor allem Millionen von Menschen in den von uns ohnehin ausgeplünderten Ländern des "globalen Südens". Der Protest muß weitergehen, weil nicht mehr hingenommen werden darf, daß monatelang elementare Grundrechte eingeschränkt werden, daß uns Medien nahezu unisono mit Falschinformationen versorgen und Denkverbote verhängen. Der Protest ist erforderlich, damit es nicht zu noch größeren Verschiebungen von wirtschaftlichen Ressourcen hin zu Pharma- und anderen Konzernen kommt.
Wer an Solidarität und gleichen Rechten für alle Menschen interessiert ist, kann diesen Protest nicht glaubwürdig ausdrücken, ohne sich von menschenverachtenden und rückwärtsgewandten Agitatoren zu trennen.
(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)
* Update: Ein Leser vermutet einen Hörfehler, es sei woh Herr Haintz gemeint. Das Datum der Originalbeitrags wurde nachgetragen..
** Update 2: Leider ist dieses Video inzwischen gelöscht. "Deutschland erhebt sich" auch heute wieder, siehe deutschlandkurier.de (6.1.24).