Auf den ersten Blick mochte der Beitrag auf corodok.de unter obigem Titel vom 17.8.20 das linke Narrativ bestätigen: Die Corona-Maßnahmen waren entscheidend durch das wirtschaftliche Interesse des Großkapitals bestimmt. Paradoxerweise führte das bei Linken nicht zu einer grundsätzlichen Kritik, sondern zu der nie überprüften Forderung eines Lockdowns für alle, der im Interesse der "arbeitenden Bevölkerung" liege, aber von der Bourgeoisie verhindert werde. Damals war auf corodok zu lesen:
Wer hat eigentlich das Papier des Innenministeriums geschrieben, das die Blaupause für die Einschränkungen der Grundrechte im Zusammenhang mit Corona darstellt? Darin war im März – ausgehend von einem Worst Case mit über 1 Million Toten in Deutschland – eine Empfehlung ausgesprochen worden, die bislang penibel abgearbeitet wurde (s.a. Wie war das noch… mit dem Schock-Papier des Innenministeriums?)
Zentraler Bezugspunkt waren dabei weniger gesundheitliche Schäden, sondern jene für die Wirtschaft. Kein Wunder bei den Autoren.
Die FAZ weiß dazu:
»Nachdem am 10. März das Papier von sieben Ökonomen über die wirtschaftlichen Implikationen der Krise auf dem Tisch lag, bat Seehofer seinen Staatssekretär Markus Kerber, selbst Ökonom und früher Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, ein Strategiepapier zu erarbeiten – und zwar eins, das ein Worst-Case-Szenario ausleuchtet. Kerber stellte eine Gruppe von rund zehn Fachleuten zusammen. Michael Hüther und Hubertus Bardt vom Institut der deutschen Wirtschaft, außerdem Christoph M. Schmidt und Boris Augurzky vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Drei Tage arbeiteten die Wissenschaftler rund um die Uhr, am 22. März war das Papier fertig. Das war der Sonntag, an dem die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin die Ausgangsbeschränkungen beschlossen. Am kommenden Tag hatte der Chef des Kanzleramts das Papier auf dem Tisch.«
Wirtschaftslobbyisten und ein Fremdsprachenlehrer?
Nicht für das Wirtschaftsministerium, erst recht nicht für das Gesundheitsressort, stellten Wirtschaftslobbyisten das Papier zusammen, das unmittelbare Auswirkungen auf uns alle haben sollte, sondern für den Chef des Innenministeriums. Horst Seehofer wird von der Zeitung so dargestellt:
»Er war zwischen 1992 und 1998 Bundesgesundheitsminister und hatte mit dem Bluttransfusionsskandal zu kämpfen. Er traf die Entscheidung, das Bundesgesundheitsamt aufzulösen und das Robert-Koch-Institut ins Leben zu rufen. Seine Lehre aus diesen Zeiten: Wer die Gefahr unterschätzt, kann politisch nicht überleben. Das heißt: Ein Worst-Case-Szenario muss als realistisch betrachtet werden.«
Nun sind bislang nur fünf von zehn ""Fachleuten" benannt. Das Ministerium schweigt sich ganz über die Autorenschaft aus.
Doch da gibt es noch einen Otto Kolbl, der sich auf Twitter als "member of German Interior Min. COVID-19 task force" bezeichnet. Noch am 4. August rühmt er sich dort:
»I think that in the COVID-19 task force of the German Interior Ministry, we explained that well in our March 22 paper, and managed to silence advocates of herd immunity for some time (C. Drosten, Jens. Spahn, Helge Braun, etc.).
Then all this was forgotten again, and communication became a disastrous failure.«
Am 13.8 trägt er nach:
»Die Initiative ging vom BMI (Seehofer und Markus Kerber) aus…
Es waren sehr viele Personen darin involviert, die deutsche COVID-Politik in gesunde Bahnen zu lenken.«
Es gibt zwei Möglichkeiten. Der Mann ist größenwahnsinnig und lügt oder das Ministerium hat in das zehnköpfige Expertenteam zur vermeintlichen Jahrhundert-Epidemie einen Menschen geholt, der sich selbst so darstellt:
Was befähigt ihn, grundsätzliche Entscheidungen in der Coronafrage zu beeinflussen? Etwa eine Veröffentlichung, die er mit Dr. Maximilian Mayer, Assistant Professor in International Studies an der University of Nottingham Ningbo China verfaßte? Dieses Werk vom 4.3.2020 macht bereits im Titel die Absicht deutlich: "Learning from Wuhan—there is no Alternative to the Containment of COVID-19".
Hier wird eine Verschwörungstheorie aufgebaut, wonach WHO-Funktionäre und Virologen wie zu dieser Zeit noch Christian Drosten, aber auch italienische WissenschaftlerInnen die Sterblichkeitsrate ignorierten:
»Entscheidende Informationen fehlen im westlichen Experten- und Mediendiskurs praktisch…
Die meisten Experten geben Schätzungen zwischen etwa 2% und etwas mehr als 0,1% an; Letzteres würde in etwa der Todesrate einer schlechten Grippesaison entsprechen.«
Während in der gesamten Medienwelt ein erbarmungsloses Bashing gegen die Positionen stattfindet, die die Autoren den "meisten Experten" zuschreiben, machen die Verfasser sich auf, einen Worst Case zur Grundlage jeglichen Handelns zu konstruieren. Dabei haben wir es hier wohlgemerkt weder mit Virologen noch Epidemiologen zu tun.
Im April legt Kölbl (in welcher Funktion?) nach und schlägt ein Modell vor, über das er sagt:
»Es basiert auf gegenwärtig nur sehr lückenhaften Datenreihen und stellt lediglich ein mögliches Modell von vielen dar. Es sollte daher keinesfalls zur Festlegung des konkreten Datums einer Aufhebung von Lockdown-Maßnahmen genutzt werden.«
Im Juni folgt eine Publikation, in der er eine überraschende These formuliert. Danach erleben wir eine "Stärkung verschiedener weißer Vorherrschaftsbewegungen".
»COVID-19 wird anscheinend von Mitgliedern dieser Bewegungen gesehen als ein willkommenes Instrument zur Erhöhung der Sterblichkeit unter Nicht-Weißen, und leider lassen auch bestimmte Eigenschaften dieses Virus es für diesen Zweck angemessen erscheinen. Darüber hinaus scheinen nicht-weiße Körper dafür anfälliger zu sein, es hat wahrscheinlich noch nie einen anderen Virus in der Geschichte gegeben dessen Sterblichkeit so sehr von kostspieligen Krankenhausbehandlungen abhängt.«
Die letzte Beobachtung mag nicht falsch sein. Sie sagt etwas aus über den Zugang zu Gesundheitssystemen und damit über das Verhältnis von Arm und Reich, über Klassenfragen. Wenn wie von ihm richtig angeführt in Großbritannien mehr Nicht-Weiße an Covid-19 sterben als Weiße, dann ist dies keine Frage ihres Körpers, sondern eine der Verfaßtheit der Gesellschaft. Denn schon vor Corona galt: Wer arm ist, stirbt früher. Und in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften ist der Anteil Nicht-Weißer an den Armen deutlich höher.
Ähnlich verstörend ist ein einstündiges Interview, das Kölbl auf youtube zeigt. Update: Das Video gibt es dort nicht mehr.
Es spricht einiges für die Vermutung, daß Kölbl in der Tat als "Experte" für die Corona-Maßnahmen fungierte. Eine gruselige Vorstellung, die ins Bild paßt.
Vielen Dank für die Anregung zu dieser Recherche an einen aufmerksamen Mitleser!
(Hervorhebungen nicht in den Originalen.)
In der Zwischenzeit hat der Mann weiter Panik, etwa zu "Long Covid", verbreitet. Seine letzten Wortmeldungen auf Twitter waren Propaganda für die Aufrüstung der Ukraine.
Siehe auch:
Schockpapier Innenministerium: Verfasser plaudert Interessantes aus