So was trägt man nicht in Deutschland! Gäste haben sich an die hiesige Staatsräson zu halten und nicht auch noch zu applaudieren, wenn ein israelischer Preisträger von Apartheid im Westjordanland spricht.
Das bürgerliche Feuilleton ist in Rage und die Politik droht mit Mittelentzug.
Wie immer man sich zum Großkonflikt im Nahen Osten verhalten mag und für welche Seite das Herz schlägt: Es ist gut, daß die Blase, in der Politik und Medien bislang unberührt von Wirklichkeit jegliche Themen abhandeln konnten, vernehmbar geplatzt ist.
Zu Wort melden sich der Regierende Bürgermeister und allerhand eher unbekannte "FachpolitikerInnen". tagesschau.de schreibt:
»"Berlin hat eine klare Haltung, wenn es um die Verteidigung der Freiheit geht. Das bedeutet auch, dass Berlin fest auf der Seite Israels steht. Darüber gibt es keinen Zweifel", schrieb Wegner dem rbb auf Anfrage. "Die volle Verantwortung für das tiefe Leid in Israel und dem Gazastreifen liegt bei der Hamas. Sie hat es in der Hand, dieses Leid zu beenden, indem sie alle Geiseln freilässt und die Waffen niederlegt. Hier gibt es keinen Raum für Relativierungen. Ich erwarte hier Maßnahmen der neuen Berlinale-Festivalleitung", so der Regierende Bürgermeister.«
Das ist in jeder Hinsicht phrasenhaft, realitätsleugnend, arrogant und totalitär. Die Behauptung, Berlin stünde irgendwo, wäre in jedem Zusammenhang unsinnig. Bezogen auf die unübersehbare Spaltung der BerlinerInnen entlang der Gaza-Frage ist sie absurd. "Du hast es in der Hand, das Waterboarding zu beenden", sagte der GI, "Du mußt nur gestehen. Hier gibt es keinen Raum für Relativierungen". Maßnahmen werden eingefordert wie weiland gegen ungehorsame Teile der Bevölkerung bei Corona. Was bei der Verteidigung der Freiheit bei der documenta mit Brachialgewalt noch gelang, nimmt sich hier wie eine peinliche Provinzposse aus. Was war Ungeheuerliches vorgefallen?
»Filmschaffende sprechen von "Genozid" und "Apartheid"
Bei der Berlinale-Preisverleihung gewann "No Other Land" den Dokumentarfilmpreis. Der Film dreht sich um die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland. Jurymitglied Véréna Paravel trug während der Laudatio einen Zettel mit der Aufschrift "Cease Fire Now" ("Waffenstillstand jetzt") auf dem Rücken. Der palästinensische Regisseur von "No Other Land", Basel Adra, nahm in seiner Dankesrede Bezug auf den aktuellen bewaffneten Konflikt im Gazastreifen: "Es ist für mich sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade durch Israel abgeschlachtet werden." Zudem richtete er den Appell an Deutschland, keine weiteren Waffen an Israel zu liefern. Dafür erhielt er Applaus. Sein Co-Regisseur, der israelische Journalist Yuval Abraham, sprach von "Apartheid" im Westjordanland.
Als später bei der Preisverleihung in einer anderen Kategorie der Dokumentarfilm "Direct Action" ausgezeichnet wurde, sagte dessen Regisseur Ben Russell in seiner Dankesrede: "Natürlich stehen wir hier auch auf für das Leben. Waffenstillstand jetzt! Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir stehen in Solidarität mit all unseren Kameraden." Hierfür gab es Applaus. Russell trug während der Preisverleihung ein sogenanntes Palästinensertuch.«
Wer das in einer Berliner Schule oder Hochschule wagt, riskiert Verweise und Exmatrikulation. Übrigens verstößt die "Tagesschau" gegen ihre eigenen Sprachregelungen, indem sie vom aktuellen bewaffneten Konflikt im Gazastreifen spricht. Politisch korrekt wäre Terrorangriff der radikalislamistischen Hamas.
Der CDU-Kultursenator sieht eine "selbstgerechte antiisraelische Propaganda, die nicht auf die Bühnen Berlins gehört". Sie sei "von einer lautstarken Minderheit im Publikum abgefeiert" worden, ergänzt sein Parteifreund, der als kulturpolitischer Sprecher auftritt. Dessen SPD-Pendant beklagt "eine mangelnde Fähigkeit, zu differenzieren – und auch das Leid Israels zu sehen" und fügt auf den entstandenen Schaden ansprechend drohend hinzu: "dass das Filmfestival zwei Millionen Euro aus dem Berliner Landeshaushalt erhalte". Daniela Billig heißt wirklich so (sie verantwortet den unfreiwilligen Klops mit dem Bärendienst) und spricht kulturpolitisch für die Berliner Grünen: "Ich habe das als emotionalen und moralischen Tiefpunkt wahrgenommen". Kollegin Helm von der Linken setzt diesen auf und sagt, was gar nicht geht: "Beim unwidersprochenen Vorwurf eines planvollen Genozids ist… eine Grenze überschritten". Darüber verhandelt zwar der Internationale Gerichtshof und mindestens die halbe Staatenwelt steht auf diesem Standpunkt – der Club der Etablierten, die für die Verteidigung der Demokratie demonstrieren läßt, will es hingegen bestrafen.
Man kann darüber streiten, wie klug und zutreffend die Äußerungen bei der Preisverleihung waren und wo beim beiderseitigen Terror im Nahen Osten Henne und Ei zu verorten sind. Was offensichtlich nicht mehr geht: Statt zu streiten nach der TINA-Methode von oben eine einzig richtige Haltung verbindlich vorzugeben. Das war noch mit den schwülstigen Solidaritätsarien von PolitfunktionärInnen für das tapfere ukrainische Volk bei der Berlinale-Eröffnung möglich, allen voran Claudia Roth (Slawa Ukraini, s. hier). KünstlerInnen und die Jury, in der auch eine von Roth hingerissene Ukrainerin saß, mochten diese Vorgabe nicht aufgreifen.
In der Ära lautloser Digitaluhren stimmt das folgende Bild nur in einem sehr übertragenen Sinne: Die Uhr tickt für die Herrschenden, ihre Zeit läuft ab. Das Geräusch ist oft verstörend und unregelmäßig. Viel zu oft klebt Blut an den Zeigern der Geschichte. Die so unausweichlichen wie berechtigten Forderungen des globalen Unten nehmen bei ihrer Durchsetzung mitunter ähnlich häßliche und zerstörerische Formen an wie die Jahrhunderte andauernde Herrschaft des Kapitalismus. Es wird nicht zwingend besser und gerechter, wenn Unterdrückte sich erheben. Die Entwicklung des Staates Israel ist nur ein Beispiel dafür. An der Erhebung wird kein Weg vorbei führen, es sei denn der des kollektiven Selbstmords. Das ansatzweise ausgesprochen zu haben, ist ein Verdienst der KünstlerInnen der Berlinale.
erschreckend ist für ich die unglaublich tiefe Ohnmacht… Und die Abspaltung derjenigen die mit strahlenden sich toll findenden gg räääächts auf die Straße gehen UND den kompletten Rechsruck seit Jahren nicht wahrnehmen.…
"uns geht's doch gut … wenn die AfDler nicht wären supergut"
Immer mehr und immer stärker wird mein Eindruck, wir würden von einer bürgerlichen Elite in den Kollaps des Systems geführt.
Als habe sich der Kapitalismus zu Tode triumphiert und nun regierten die Sachwalter des Untergangs.
Diese merkwürdige Deindustriealisierung, dieser Furor, mit dem die letzten Werte geplündert werden, diese allgemeine Hirnverbranntheit der Politik.
Warten wir auf einen Jelzin der es vollendet?
Die "Solidaritätsfront" bröckelt immer mehr: https://www.zeit.de/kultur/kunst/2024–02/biennale-venedig-israel-petition