Billig: Berlinale bitterer Bärendienst

tages​schau​.de (25.2.24)

So was trägt man nicht in Deutschland! Gäste haben sich an die hie­si­ge Staatsräson zu hal­ten und nicht auch noch zu applau­die­ren, wenn ein israe­li­scher Preisträger von Apartheid im Westjordanland spricht.

Das bür­ger­li­che Feuilleton ist in Rage und die Politik droht mit Mittelentzug.

Wie immer man sich zum Großkonflikt im Nahen Osten ver­hal­ten mag und für wel­che Seite das Herz schlägt: Es ist gut, daß die Blase, in der Politik und Medien bis­lang unbe­rührt von Wirklichkeit jeg­li­che Themen abhan­deln konn­ten, ver­nehm­bar geplatzt ist.

Zu Wort mel­den sich der Regierende Bürgermeister und aller­hand eher unbe­kann­te "FachpolitikerInnen". tages​schau​.de schreibt:

»"Berlin hat eine kla­re Haltung, wenn es um die Verteidigung der Freiheit geht. Das bedeu­tet auch, dass Berlin fest auf der Seite Israels steht. Darüber gibt es kei­nen Zweifel", schrieb Wegner dem rbb auf Anfrage. "Die vol­le Verantwortung für das tie­fe Leid in Israel und dem Gazastreifen liegt bei der Hamas. Sie hat es in der Hand, die­ses Leid zu been­den, indem sie alle Geiseln frei­lässt und die Waffen nie­der­legt. Hier gibt es kei­nen Raum für Relativierungen. Ich erwar­te hier Maßnahmen der neu­en Berlinale-Festivalleitung", so der Regierende Bürgermeister.«

Das ist in jeder Hinsicht phra­sen­haft, rea­li­täts­leug­nend, arro­gant und tota­li­tär. Die Behauptung, Berlin stün­de irgend­wo, wäre in jedem Zusammenhang unsin­nig. Bezogen auf die unüber­seh­ba­re Spaltung der BerlinerInnen ent­lang der Gaza-Frage ist sie absurd. "Du hast es in der Hand, das Waterboarding zu been­den", sag­te der GI, "Du mußt nur geste­hen. Hier gibt es kei­nen Raum für Relativierungen". Maßnahmen wer­den ein­ge­for­dert wie wei­land gegen unge­hor­sa­me Teile der Bevölkerung bei Corona. Was bei der Verteidigung der Freiheit bei der docu­men­ta mit Brachialgewalt noch gelang, nimmt sich hier wie eine pein­li­che Provinzposse aus. Was war Ungeheuerliches vorgefallen?

»Filmschaffende sprechen von "Genozid" und "Apartheid"

Bei der Berlinale-Preisverleihung gewann "No Other Land" den Dokumentarfilmpreis. Der Film dreht sich um die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland. Jurymitglied Véréna Paravel trug wäh­rend der Laudatio einen Zettel mit der Aufschrift "Cease Fire Now" ("Waffenstillstand jetzt") auf dem Rücken. Der palä­sti­nen­si­sche Regisseur von "No Other Land", Basel Adra, nahm in sei­ner Dankesrede Bezug auf den aktu­el­len bewaff­ne­ten Konflikt im Gazastreifen: "Es ist für mich sehr schwer zu fei­ern, wenn Zehntausende mei­nes Volkes in Gaza gera­de durch Israel abge­schlach­tet wer­den." Zudem rich­te­te er den Appell an Deutschland, kei­ne wei­te­ren Waffen an Israel zu lie­fern. Dafür erhielt er Applaus. Sein Co-Regisseur, der israe­li­sche Journalist Yuval Abraham, sprach von "Apartheid" im Westjordanland.
 
Als spä­ter bei der Preisverleihung in einer ande­ren Kategorie der Dokumentarfilm "Direct Action" aus­ge­zeich­net wur­de, sag­te des­sen Regisseur Ben Russell in sei­ner Dankesrede: "Natürlich ste­hen wir hier auch auf für das Leben. Waffenstillstand jetzt! Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir ste­hen in Solidarität mit all unse­ren Kameraden." Hierfür gab es Applaus. Russell trug wäh­rend der Preisverleihung ein soge­nann­tes Palästinenser­tuch.«

Wer das in einer Berliner Schule oder Hochschule wagt, ris­kiert Verweise und Exmatrikulation. Übrigens ver­stößt die "Tagesschau" gegen ihre eige­nen Sprachregelungen, indem sie vom aktu­el­len bewaff­ne­ten Konflikt im Gazastreifen spricht. Politisch kor­rekt wäre Terrorangriff der radi­kal­is­la­mi­sti­schen Hamas.

Der CDU-Kultursenator sieht eine "selbst­ge­rech­te anti­is­rae­li­sche Propaganda, die nicht auf die Bühnen Berlins gehört". Sie sei "von einer laut­star­ken Minderheit im Publikum abge­fei­ert" wor­den, ergänzt sein Parteifreund, der als kul­tur­po­li­ti­scher Sprecher auf­tritt. Dessen SPD-Pendant beklagt "eine man­geln­de Fähigkeit, zu dif­fe­ren­zie­ren – und auch das Leid Israels zu sehen" und fügt auf den ent­stan­de­nen Schaden anspre­chend dro­hend hin­zu: "dass das Filmfestival zwei Millionen Euro aus dem Berliner Landeshaushalt erhal­te". Daniela Billig heißt wirk­lich so (sie ver­ant­wor­tet den unfrei­wil­li­gen Klops mit dem Bärendienst) und spricht kul­tur­po­li­tisch für die Berliner Grünen: "Ich habe das als emo­tio­na­len und mora­li­schen Tiefpunkt wahr­ge­nom­men". Kollegin Helm von der Linken setzt die­sen auf und sagt, was gar nicht geht: "Beim unwi­der­spro­che­nen Vorwurf eines plan­vol­len Genozids ist… eine Grenze über­schrit­ten". Darüber ver­han­delt zwar der Internationale Gerichtshof und min­de­stens die hal­be Staatenwelt steht auf die­sem Standpunkt – der Club der Etablierten, die für die Verteidigung der Demokratie demon­strie­ren läßt, will es hin­ge­gen bestrafen.

Man kann dar­über strei­ten, wie klug und zutref­fend die Äußerungen bei der Preisverleihung waren und wo beim bei­der­sei­ti­gen Terror im Nahen Osten Henne und Ei zu ver­or­ten sind. Was offen­sicht­lich nicht mehr geht: Statt zu strei­ten nach der TINA-Methode von oben eine ein­zig rich­ti­ge Haltung ver­bind­lich vor­zu­ge­ben. Das war noch mit den schwül­sti­gen Solidaritätsarien von PolitfunktionärInnen für das tap­fe­re ukrai­ni­sche Volk bei der Berlinale-Eröffnung mög­lich, allen vor­an Claudia Roth (Slawa Ukraini, s. hier). KünstlerInnen und die Jury, in der auch eine von Roth hin­ge­ris­se­ne Ukrainerin saß, moch­ten die­se Vorgabe nicht aufgreifen.

In der Ära laut­lo­ser Digitaluhren stimmt das fol­gen­de Bild nur in einem sehr über­tra­ge­nen Sinne: Die Uhr tickt für die Herrschenden, ihre Zeit läuft ab. Das Geräusch ist oft ver­stö­rend und unre­gel­mä­ßig. Viel zu oft klebt Blut an den Zeigern der Geschichte. Die so unaus­weich­li­chen wie berech­tig­ten Forderungen des glo­ba­len Unten neh­men bei ihrer Durchsetzung mit­un­ter ähn­lich häß­li­che und zer­stö­re­ri­sche Formen an wie die Jahrhunderte andau­ern­de Herrschaft des Kapitalismus. Es wird nicht zwin­gend bes­ser und gerech­ter, wenn Unterdrückte sich erhe­ben. Die Entwicklung des Staates Israel ist nur ein Beispiel dafür. An der Erhebung wird kein Weg vor­bei füh­ren, es sei denn der des kol­lek­ti­ven Selbstmords. Das ansatz­wei­se aus­ge­spro­chen zu haben, ist ein Verdienst der KünstlerInnen der Berlinale.

3 Antworten auf „Billig: Berlinale bitterer Bärendienst“

  1. erschreckend ist für ich die unglaub­lich tie­fe Ohnmacht… Und die Abspaltung der­je­ni­gen die mit strah­len­den sich toll fin­den­den gg räääächts auf die Straße gehen UND den kom­plet­ten Rechsruck seit Jahren nicht wahrnehmen.…
    "uns geht's doch gut … wenn die AfDler nicht wären supergut"

  2. Immer mehr und immer stär­ker wird mein Eindruck, wir wür­den von einer bür­ger­li­chen Elite in den Kollaps des Systems geführt. 

    Als habe sich der Kapitalismus zu Tode tri­um­phiert und nun regier­ten die Sachwalter des Untergangs. 

    Diese merk­wür­di­ge Deindustriealisierung, die­ser Furor, mit dem die letz­ten Werte geplün­dert wer­den, die­se all­ge­mei­ne Hirnverbranntheit der Politik.

    Warten wir auf einen Jelzin der es vollendet?

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