Wieder einmal ist es "analyse & kritik – Zeitung für linke Debatte & Praxis" gelungen, eine brauchbare Überschrift mit einem Text zu ruinieren, der von Mitleid erregendem Hirnfraß gezeichnet ist. Geschrieben hat ihn jemand, der so vorgestellt wird: "Kim Posster war an mehreren Versuchen der organisierten Reflexion von Männlichkeit beteiligt, die er mittlerweile als gescheitert betrachtet." Er hebt seine Klage so an:
»Während Corona weiter massenhaft versehrt und tötet, meint der Großteil der Linken, mit dem Virus leben zu können
Corona hat mich verzweifelt und isoliert gemacht, Seit meiner ersten Infektion im Mai 2022 habe ich Post Covid.
Ein Zustand, der mein Leben von Anfang an eingeschränkt hat und seitdem in Intervallen schlimmer geworden ist. Selt vier Monaten komme ich kaum noch aus den Haus. Alltäglichkeiten wie Wäschewaschen, Einkaufen, selbst Essenszubereltung müssen andere für mich erledigen.
Damit bin ich ein relativ schwerer Fall, obwohl ich im Gegensatz zu vielen anderen weder unter Kognitionsproblemen noch einem voll ausgeprägtem chronischen Erschöpfungssyndrom leide [sic].«
Ich gestehe jedem Menschen zu, daß er über seine Leidensgeschichte berichtet und maße mir nicht an, sie zu bewerten. Das tun, meist anonym in "sozialen Medien", solche, die sich als "Impf"-Opfer sehen, und eben wie hier diejenigen, die sich für schwere Fälle von Post Covid halten. Eine gewisse Skepsis werde ich mir erhalten. Aus beiden Lagern habe ich zu oft Geschichten gehört von ganzen Freundeskreisen, die wegen Corona auf der Intensivstation lagen oder umgekehrt nur knapp dem Tod von der Spritze gesprungen sind.
Hier handelt es allerdings um einen Beitrag zur politischen Diskussion, so daß jenseits von individuellen Krankheitsbildern die Frage gestellt werden darf, ob die ins Feld geführte Abwesenheit von Kognitionsproblemen sich vereinbaren läßt mit dem Vorgetragenen. Worauf stützt sich der Autor?
»Nach einer Umfrage des deutschen Instituts für Altersvorsorge vom März 2023 leiden bereits 21 Prozent der mindestens einmal infizierten Menschen hierzulande an Corona-Spätfolgen (bei 18- bis 39-Jährigen sind es sogar 35 bis 40 Prozent). Jede Infektion hat eine etwa zehnprozentige Chance, Long Covid und seine chronifizierte Form Post Covid auszulösen. Das Risiko steigt mit jeder weiteren Ansteckung. Eine Modellierung des Epidemilogen [sic] David Steadson besagt, dass in fünf Jahren ein Großteil der Menschen in den Industrienationen Spätfolgen haben wird, die ihren Alltag bedeutend einschränken.
Dabei geht es wohlgemerkt nur um Long Covid im engen Sinn…«
Bevor ich auf die Quellen eingehe, zu denen es keine Belege im Artikel gibt, zwei Vorbemerkungen. Noch heute verbreitet das RKI die Notwendigkeit von "3 SARS-CoV-2-Antigenkontakten" – in vielen Medien war oft von einer noch größeren Zahl die Rede:
»Eine Basisimmunität, bestehend aus 2 Impfungen und einer SARS-CoV-2-Infektion, löst vermutlich eine vergleichbar gute Schutzwirkung aus wie die Immunität bestehend aus einer Impfung und 2 Infektionen.«
rki.de Stand: 11.01.2024
Sehen wir ab von den üblichen Konjunktiven und der Leugnung der natürlichen Immunität ohne "Impfung", so haben wir es in der Logik des Autors mit einem Aufruf zu tun, Long/Post Covid zu erwerben. Daß die "Impfung" offenbar in diesem Sinne wirkt, geht ebenso aus der Modellierung hervor, die in den – durchgeimpften – Industrienationen Spätfolgen kommen sieht.
Die Quellen
1. Deutsches Institut für Altersvorsorge
Es ist nicht per se falsch, wenn ein Institut Ergebnisse aus Umfragen vorlegt. Ein Beitrag zur linken Diskussion sollte dabei schon erwähnen, daß es sich um eine Lobbyorganisation handelt. Das Deutsche Institut für Altersvorsorge beschreibt sich schnörkellos so:
Besagte Umfrage wurde vom Institut und der Zurich-Versicherung in Auftrag gegeben. (Zur putzigen Aktion des Konzerns um den Buchstaben "Z" siehe unten.) Daß zumindest ihre Interpretation interessegesteuert ist, wird schnell deutlich:
»... Corona habe bei den Bürgerinnen und Bürgern offenbar das Bewusstsein geschärft, dass es ratsam ist, über den gesetzlichen Schutz hinaus für eine längere Krankheit vorzusorgen. Dies gaben rund zwei von drei Befragten (64 Prozent) im Rahmen der Umfrage an. Vor allem in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen (78 Prozent) und unter den über 70-Jährigen (71 Prozent) war diese Einschätzung weit verbreitet.
Die Erfahrungen mit Corona-Infektionen, aber auch mit Post- beziehungsweise Long Covid-Erkrankungen verstärkten die Aufmerksamkeit für die Arbeitskraftabsicherung. So legen 54 Prozent der Umfrageteilnehmer nunmehr größeren Wert auf eine finanzielle Vorsorge für den Fall, dass der bisherige Beruf oder überhaupt keine Tätigkeit mehr ausgeübt werden kann. In der Gruppe der 30- bis 39-Jährigen sind es sogar etwas mehr als vier Fünftel, die eine solche Schlussfolgerung gezogen haben…«
Das Interesse, mittels Angst vor Corona Versicherungen zu verkaufen, ist klar erkennbar. Die Durchführung der Befragung vom 24.–27.3.23 hatte das Meinungsforschungsinstitut INSA übernommen. Ich verzichte auf die Einordnung des Unternehmens und derartiger Umfragen generell und beschränke mich auf diese Aussage:
Alleine dieses Setting ist nicht geeignet, irgendeine Art von Repräsentation der Bevölkerung zu erzeugen. Das wird auch an keiner Stelle so behauptet. Die Befragung kommt zu erstaunlichen Ergebnissen:
- Nach drei Jahren eines Phänomens, das weithin als Pandemie bezeichnet wird, heißt es: "33 Prozent unserer Umfrageteilnehmer waren bzw. sind weder selbst an Corona erkrankt noch trifft
dies auf deren Angehörige zu." - "Mit dem Alter sinkt der Anteil derer, die selbst an Corona erkrankt waren bzw. sind, von 46 Prozent bei den 18- bis 29-
Jährigen bis auf 16 Prozent bei den ab 70-Jährigen." - Im Osten lebt es sich gesünder: Dort gaben 40 % an, daß weder sie selbst noch nahe Angehörige an Corona litten; im Westen waren es 30 %.
Die Zahlen, die der besorgte Autor nennt, gibt es so in der Umfrage nicht. Vor allem: Nirgends wurde auch nur ansatzweise definiert, was denn wohl Post/Long-Covid sein mag.
2. David Steadson, der falsche Epidemiologe
Wie steht es mit der zweiten Quelle, der Modellierung von David Steadson? Hier wird es schwierig und der Autor ist nicht behilflich. Er hat vermutlich den "Focus" gelesen, für den hier auch gilt: Nicht alles dort ist falsch, nur weil es dort steht. Es wird am 14.7.22 der "Entwurf eines Charts" auf Twitter präsentiert:
»… Epidemiologe: Mehrheit der Menschen bekommt innerhalb der nächsten Jahre Long-Covid
Auch Epidemiologe David Steadson, der in Schweden lebt und arbeitet, befasst sich gerade mit einer wissenschaftlichen Arbeit zur Auswirkung von Reinfektionen. Auf Twitter postete er einen Entwurf eines Charts, das zeigt wie lange es dauert, bis jemand Long-Covid nach mehrfachen Infektionen entwickelt basierend auf verschiedenen Studien.
„Mit aktuellen Schätzungen des Risikos von Long-Covid bei etwa 20 Prozent bei jeder Infektion und Richtlinien, die zu erwarteten 2–3 Infektionen pro Jahr führen, kann die überwiegende Mehrheit der Menschen damit rechnen, an irgendeiner Form von Long-Covid innerhalb der nächsten 2–3 Jahre zu leiden“, schreibt er bei Twitter…«
In diesem Tweet zeigt Steadson im übertragenen Sinne, wie sich die Wahrscheinlichkeit von Würfelergebnissen grafisch darstellen läßt:
Da sich Steadson inzwischen zum Vollzeit-Influencer für die Ukraine entwickelt hat, seine Virus-Warnungen in der Flut von "Slava Ukraini" aber nicht verloren gehen sollen, hat er eine recht ähnliche Grafik vom 7.12.23 oben angeheftet. Begründet der Epistemologe, Epidermiker oder was immer zu sein er beansprucht, seine Behauptung mit irgendetwas? Nein, weder im Juli 22 noch im Dezember 23. Sicher ist er jedoch: "You're always rolling the dice" und "The risk of developing Long Covid *from* vaccines appears small. Get vaxxed".
Dennoch wurde seine Grafik und seine Legende in allen möglichen Medien herumgereicht. manager-magazin.de wußte im Dezember 23, daß er "derzeit ein internationales Long Covid Resource Center" aufbaue. Dumm für Steadson ist: Es wird dort ebenfalls angegeben, daß er "versucht, dies mit Daten aus einer US-Studie der CDC zu modellieren". Die geben nun für seine Modellierungen gar nichts her. Nach vier Jahren Seuche kommen die CDC selbst bei großzügigster Definition von Long Covid auf knappe 18 % leidender Erwachsener. Deren Zahl nimmt zudem ab:
Lesenswert ist die Liste der "Limitations" dort.
Von Beginn an fühlte sich der "ehemalige Forscher für öffentliche Gesundheit von der Universität Queensland, der seit 20 Jahren in Schweden lebt", berufen, in seinem Gastland, vor allem aber für das australische Publikum, Panikstimmung zu erzeugen. Das tat er bereits damals mit Fake- und No-News wie in "Coronavirus Sweden: Aussie health expert in Sweden reveals truth about so-called ‘success story’" vom 11.9.20 auf news.com.au.
Sein wissenschaftliches Profil besteht laut scholar.google.com aus der Mitwirkung an einer Arbeit über Schweden, einem Brief über Kinder- und Lehrersterblichkeit in Schweden wegen Corona und drei betagten Werken zu Alkohol am Steuer. Sein Profil auf linkedin.com ist diesbzüglich noch weniger ergiebig. Vor allem zeigt es: Niemals in seinem Leben hat Steadson als Epidemiologe gearbeitet noch überhaupt einen entsprechenden Abschluß.
Bei Posster lesen wir weiter:
»Die aktuelle Welle, die in Deutschland in den letzten drei Monaten 378 Menschen pro Woche getötet und unzählige zu Spätfolgen verdammt hat, hat noch einmal gezeigt, dass der Kreislauf von immer neuen Mutationen und Infektionswellen nicht enden oder sich bedeutend abschwächen wird.«
Wo immer diese Zahlen herkommen mögen (de.statista.com nennt am 19.2.24 eine ähnliche Anzahl von "Todesfällen in Zusammenhang mit dem Coronavirus"), richtig ist: Es sind Viren in der Welt und manche von ihnen stellen für alte und kranke Menschen eine Gefahr dar. Die wenigsten von ihnen stehen mit SARS-COV‑2 im Zusammenhang. Was aber macht er daraus?
»Wer auch nur ein ansatzweise "normales" Sozial- und Arbeitsleben führen will bzw. muss, ist dem Virus fast vollständig ohnmächtig ausgeliefert...
Linke Gruppen, Veranstaltungen und Räume haben spätestens im letzten Jahr nahezu komplett aufgehört, eine erkennbare Praxis oder auch nur Haltung zum Virus zu haben. Die Frage, ob zum Beispiel Tests, Masken, Luftfilter etc. eigentlich sinnvoll, notwendig oder solidarisch wären, wird gar nicht mehr gestellt… Gegenöffentlichkeit und Analysen, Agitation, gar Kampagnen? Seit spätestens 2023 kaum oder gar nicht mehr vorhanden.«
Spätestens hier hätte die Redaktion einschreiten können. Sie hätte einen Menschen erkennen können, der seine Erkrankung zum Dreh- und Angelpunkt der Welt erklärt und einen erheblichen Realitätsverlust offenbart. Sie hätte ihn schützen können. Krankheiten und ihre Begleiterscheinungen sind nicht tabu, die Betroffenen haben ein Recht darauf, ihre Sicht darzustellen. Der Artikel steht allerdings in der Rubrik "bewegung" und soll Teil einer Diskussion zur Politik von Linken sein. Damit haben wir einen Hinweis darauf, daß in der organisierten Linken auch noch nach vier Jahren wenig Bereitschaft vorhanden ist, auch nur einen Millimeter von den Dogmen abzurücken, die sie seit dem Frühjahr 2020 mit den Regierenden teilen. Zur simulierten Diskussion in dem Blatt siehe Long Covid der Linken. Der Beitrag setzt sich mit einem Artikel des ehemaligen Pressesprechers von #ZeroCovid auseinander, dessen reaktionäre Positionen Posster zu liberal sind. Denn:
»Gerade an Post Covid zeigt sich, dass diese sozialdarwinistisch getönte Ignoranz der Linken, die herrschendes Unrecht hinnimmt, wenn es "nur" Alte und "Schwache" gesellschaftlich ausschließt und existenziell bedroht, doppelt unangemessen ist. Sie ist nicht nur zynisch, sie ist falsch.«
Derart haben nicht etwa Lockdowns, eine ruinierte Kultur und Gastronomie, die Unterbindung von Präsenz an Hochschulen, die Schließung von Kitas, Schulen und Spielplätzen, ganz zu schweigen von 2G‑, 3G‑, 3G-plus-Regeln, Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Sondern es ist der Verzicht darauf, Alte und "Schwache" mittels lange erlebter Maßnahmen weiter zu Tode zu schützen. Hat der Autor jemals darüber nachgedacht, warum trotz oder wegen des Wegsperrens dieser Gruppen oder gar durch die "Impfung" ihr Sterben mitnichten verhindert wurde, aber die Begleitumstände brutalst möglich gestaltet wurden?
»Die immer neuen Rekorde beim Krankenstand, Schulen als Seuchenhorte und Krankenhäuser als Todesfallen zeigen, dass das benötigte Reservoir an verwertbarem Menschenmaterial schon mittelfristig ernsthaft in Gefahr ist. Diese Situation führt jetzt schon zu Absurditäten wie der, dass weitsichtigere Vertreter*innen. des Kapitals progressiver in der Sache und kämpferischer im Ton werden als die meisten Gewerkschaften und Kommunist*innen…
So bleiben nicht nur ich, sondern auch unzählige andere selbst noch in ihrer Isolation and Verzweiflung allein.«
Bemerkungen darüber, welch weitere seiner Probleme beim weitsichtigeren Kapital besser aufgehoben sein mögen, erspare ich mir als potentiell gehässig. Stattdessen werde ich mir das Hirn zermartern, was wohl solche Menschen veranlaßt, sich für links zu halten.
Zitiert wurde hier nach der Print-Version vom 20.2.24. Online hinter der Bezahlschranke: akweb.de.
Zur Zurich-Versicherung war im März 2022 in Satire darf alles aus einem real existierenden Artikel auf n‑tv.de zitiert worden:
»Der Schweizer Versicherungskonzern Zurich hat sich vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine entschieden, sein Firmenlogo "Z" deutlich weniger einzusetzen. "Wir entfernen vorübergehend die Verwendung des Buchstabens "Z" aus sozialen Kanälen, wo er isoliert erscheint und missverstanden werden könnte", bestätigte das Unternehmen. Statt eines einzelnen "Z" besteht das Zurich-Logo in sozialen Kanälen wie Twitter, Facebook und Instagram nun aus dem kompletten Namen des Versicherungskonzerns, ebenfalls in Weiß auf blauem Grund. Auf der Konzern-Website ist das verkürzte Logo weiterhin zu sehen…
In Deutschland gehen die ersten Bundesländer bereits in bestimmten Zusammenhängen gegen das "Z"-Kennzeichen vor. Bayern und Niedersachsen ordneten an, dass die öffentliche Verwendung des Symbols etwa bei Demonstrationen strafbar ist. Möglich sind bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe.…«
(Hervorhebungen in blau nicht in den Originalen.)