Noch vor vier Jahren hätte es sein können, daß ich einer vergleichbaren Geschichte geglaubt hätte, wie sie unter diesem Titel die Präsidentin einer "Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD)" am 17.2.24 auf tagesschau.de präsentiert. Dann habe ich gelernt, daß ein einziger dummer und tatsächlich antisemtisch zu verstehender Judenstern auf einer Demo ausreichte, um der gesamten Coronakritik einen rechten Stempel aufzudrücken.
Hanna Veiler steht einem Verein vor, über dessen Mitgliederzahlen nichts bekannt ist, der aber für sich in Anspruch nimmt, die "bundesweite Vertretung jüdischer Studierender und junger jüdischer Erwachsener" zu sein. Bereitwillig nehmen das Medien aller Art seit Wochen auf und bieten so ein Forum für vermeintlich authentische jüdische Stimmen, was sich hingegen als schiere Israel-Propaganda erweist.
Der Tagesschau-Artikel beginnt so:
»Hanna Veiler sitzt in einem Büro der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und erzählt ruhig, wie ihre Welt sich seit dem 7. Oktober verändert hat. Dem Tag, an dem die Hamas Soldaten und Zivilisten in Israel überfiel und mehr als 1.000 Menschen tötete.
"Wir sehen Universitäten, die absolut ratlos sind und keine Mechanismen haben, um den derzeitigen Antisemitismus zu bekämpfen", sagt sie. Wöchentlich gebe es Blockaden vermeintlich pro-palästinensischer Veranstaltungen und Hörsaalbesetzungen: "Man braucht den Campus nur zu betreten und sieht Flyer und Plakate mit antisemitischen Inhalten."«
Hier sind bereits die meisten Versatzstücke der Meinungsmache versammelt. Anscheinend voraussetzungslos ermordete die Hamas mehr als 1.000 Menschen. Mehr als 20.000 durch die israelische Armee Getötete, überwiegend Kinder und Jugendliche, werden nicht erwähnt. "Pro-palästinensische" Stimmen, selbst wenn sie es nur "vermeintlich" sind (?), gelten per se als antisemitisch.
Es kann keinen Zweifel daran geben, daß in einem Land, in dem der Faschismus weder politisch noch ökonomisch und psychologisch aufgearbeitet wurde – Ansätze dazu in Gestalt der DDR scheiterten am kollektiven Klassengegner und eigenem Unvermögen –, auch Antisemitismus in relevanten Teilen der Bevölkerung zu finden ist. Selbstredend ist auch eine palästinensische Bewegung, die sich gegen Besetzung und Vertreibung richtet, geprägt von einer antisemitischen Ausrichtung der islamistischen Organisationen, die zur Zeit den Kampf militärisch führen. Ebenso ist die israelische Regierung durch rechtsradikale, vom Vokabular an Nazis anknüpfende, Parteien charakterisiert. Es geht hier nicht um eine Bewertung eines komplexen Phänomens oder gar eine Aufrechnung, sondern eine Beschreibung, deren einzelne Aspekte allzu oft einseitig dargestellt werden.
Perfide wird es, wenn Frau Veiler so vorgeht:
»"Ich könnte derzeit einen Campus wie den der Freien Universität oder der Universität der Künste nicht betreten. Weil konkrete Bedrohungen da sind", sagt sie. Vor einer Woche erst sei wieder so ein Brief angekommen: "Da stand so was drin wie: Ich kann es kaum erwarten, dich durch den Schornstein von Auschwitz jagen zu lassen." Solche Drohungen würden auch andere Mitglieder der JSUD erhalten.«
Es kann sein, es gab einen solchen Brief. Es kann sein, Veiler hat ihn erfunden. Er klingt nicht wie die beklagte Kritik an israelischer Siedlungs- und Besatzungspolitik. Gibt es solche Schreiben, werden sie gegenwärtig gewiß strafrechtlich verfolgt. Was Veiler aber will, ist die Schließung der Debatte und buchstäblich ihrer Räume. Wie bei Corona und dem Ukraine-Krieg soll es die eine gültige Meinung geben und sonst nichts. "Die Unis könnten ihr Hausrecht durchsetzen. Aber Leitungen sind wahnsinnig langsam. Das ist eine Willensfrage", jammert Veiler.
Von der "Zeit" wird Veiler, die laut Wikipedia 2018 ein Studium der Kunstgeschichte begann, als "jüdische Poetin und Aktivistin" vorgestellt. Als solche hat sie dort zwei Beiträge veröffentlicht. Beide sind durchaus interessant. Unter der Überschrift "Was Oma braucht, ist Geld" war am 10.2.23 zu lesen:
»90 Prozent der Juden in Deutschland leben im Alter in Armut, obwohl viele von ihnen jahrzehntelang gearbeitet haben. Daran ändert auch eine traurige Einmalzahlung nichts.«
Sie schildert die Erfahrung ihrer Großeltern, die in der Sowjetunion und später Belarus lebten:
»… Beide sind Nachkriegskinder und in armen, von Krieg und der Shoah gezeichneten Familien aufgewachsen. Beide haben studiert, waren Oberärztin und Ingenieur. Sie hatten ein Sommerhäuschen, eine Wohnung in der Stadt, viele Freunde und Hobbys. Sie führten ein Leben in Wohlstand und Würde; ein Leben, das sie sich erarbeitet und trotz aller Härten in der Sowjetunion Stück für Stück aufgebaut hatten. Obwohl sie aufgrund ihrer jüdisch klingenden Nachnamen Antisemitismus erfuhren, konnten sie sich immer mit der sowjetischen und später belarussischen Gesellschaft identifizieren. Für meinen Geschmack hatten sie sogar zu viel Nationalstolz. Doch von dem Stolz und der Lebensfreude meiner Großeltern ist heute nichts mehr übrig und die Verantwortung dafür trägt niemand anderes als der deutsche Staat.«
Sie waren nach 1991 als jüdische "Kontingentflüchtlinge" in die BRD gekommen.
»… Anders formuliert heißt das auch: Knapp 50 Jahre nachdem Deutschland seine Jüdinnen fast vollständig ausgelöscht hatte, hatte es beschlossen, neue Juden aus der Sowjetunion zu importieren…
Wer meine Großeltern nach ihrer Meinung hierzu befragt, kriegt eine klare Antwort: Sie mussten nicht gerettet werden. Als sie in den Nullerjahren nach Deutschland kamen, waren sie nicht auf der Flucht vor religiöser Verfolgung. Nach Jahrzehnten des Sozialismus verstanden sie sich zwar immer noch als ethnisch jüdisch, waren jedoch durch und durch atheistisch sozialisiert. Die Ausübung religiöser Praktiken ist für sie nie eine Priorität gewesen. Doch der German Dream versprach mehr als Religionsfreiheit. Er versprach bessere Bildung für ihre Kinder und wirtschaftliche Prosperität, weshalb sie sich letztendlich für die Migration entschieden. Der Traum von einem besseren Leben in Deutschland platzte jedoch bereits kurz nach der Ankunft.«
Womit sie nicht gerechnet hatten: Der deutsche Staat erkannte für die Rentenzahlungen ihre Arbeitszeit in der UdSSR nicht an. "Obwohl mehr als 70 Prozent von ihnen eine akademische Laufbahn vorzuweisen haben, verbringen sie ihren Lebensabend in Deutschland in prekären Verhältnissen. Trotz 40-jähriger Karriere als Gynäkologin stehen meiner Oma somit monatlich nur knapp 300 Euro netto zur Verfügung."
Auf den ersten Blick liest sich die Schilderung wie ein spezielles Programm gegen jüdische Menschen. Wäre das so, fragte man sich, woher Veiler ihr Vertrauen in den deutschen Staat nimmt. Vielleicht ist eine andere Lesart wahrscheinlicher. Danach ging es der Kohl-Regierung um einen Propagandacoup, die Menschen waren ihr so egal wie andere Geflüchtete, für die vergleichbare Regeln gelten. Ähnlich würdelos agierten zahlreiche Bundesregierungen bei den lächerlichen Entschädigungen für sowjetische ZwangsarbeiterInnen, die sie jahrzehntelang ablehnten und dann verzögerten, bis nur noch wenige Opfer lebten. Die Schuld an Millionen ermordeten JüdInnen meinte man mit Waffenlieferungen und Bußgeldzahlungen an Israel abgleichen zu können. Die noch größere Gruppe der durch den Angriffskrieg zu Tode gekommenen Menschen der UdSSR blieb tabu. (Selbst das Existenzrecht der DDR wurde jahrzehntelang in Frage gestellt. Das ist aber ein Thema für sich.)
In einem Beitrag vom 27.1.22 unter dem Titel "Warum ich die deutsche Gedenktagsperformance nicht ernst nehmen kann" schrieb Veiler zutreffend:
»… Die Shoa begann aber nicht erst in Auschwitz. Die Diskriminierung hatte bereits viel früher in allen Bereichen des alltäglichen Lebens begonnen. Es fing damit an, dass Jüdinnen:Juden keine öffentlichen Orte betreten und ihre Berufe nicht mehr ausüben konnten. Es begann auch damit, dass ihre Nachbar:innen und vermeintlichen Freund:innen zu diesem Unrecht schwiegen. Die Täterschaft begann daher nicht erst bei denen, die Befehle erteilten oder in den Konzentrationslagern arbeiteten, sondern bei denen, die schwiegen oder gar die Abtransporte bejubelten…«
Nein, ihr fiel keine Parallele auf.