Am Tag, nachdem der Bundesrat das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ durchgewunken hat, und zwei Tage nach dem EU-Beschluß, 50 weitere Milliarden Euro auszugeben, um der Ukraine die Fortführung des Krieges zu ermöglichen, sollen in Berlin erneut Menschen „gegen Spaltung“ und „für Demokratie“ auf die Straße gehen. Blicken wir auf den Aufruf, den mehr als 1.700 Organisationen unterstützen:
»Hand in Hand – jetzt solidarisch aktiv werden!
Wir rufen dazu auf, der rechten Normalisierung in Deutschland und Europa nicht länger zuzuschauen.
Krisen, Kriege, Katastrophen – die Welt um uns herum gerät immer mehr ins Wanken. Vieles, worauf wir uns verlassen haben, ist unsicher. In einer sich schnell bewegenden Welt sehen wir, wie sich das politische Klima in Europa bedrohlich verändert. Ängste vor Veränderungen, Verlust und Armut werden absichtlich geschürt, Menschen werden gegeneinander ausgespielt. Die Gräben in der Gesellschaft vertiefen sich.«
Sind Ängste angesichts des wirtschaftlichen Kurses und des immens teuren Säbelrasselns der Bundesregierung nicht berechtigt? Gehört Armut für viele Menschen im reichen Deutschland nicht längst zur Realität?
Wer verantwortet, daß Gräben, vor allem die zwischen Arm und Reich, sich vertiefen? Wer spielt Streikende gegen die Bevölkerung aus, wegen der Kriege Besorgte gegen die, die eine "Staatsräson" wahren wollen?
»In Deutschland entwickelt sich die politische Landschaft alarmierend: Rechte und rechtsextreme Ansichten bekommen öffentlichen Rückhalt. Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nehmen zu. Menschen werden etwa aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit herabgesetzt und sozial ausgegrenzt.«
Ja, es gibt Mißachtung von Obdachlosen. Woher aber kommt die Obdachlosigkeit? Wer von den KundgebungsrednerInnen grenzt Arme und Arbeitslose aus, und wer nicht? Wer verwendet den Antisemitismus-Vorwurf willkürlich und schürt nebenbei eine besondere Form der Ausländerfeindlichkeit?
»Gleichzeitig werden zwingende Aufgaben wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zu lästigen Zumutungen abgewertet. Respektlosigkeit, Anfeindungen und das Leugnen von Fakten dominieren Teile der gesellschaftlichen Stimmung. Die Abgrenzung gegenüber Verächtern der Demokratie wie der AfD schwindet. Für Menschenrechte einzustehen, wird in Frage gestellt. Geflüchtete werden massiv entrechtet, sie und Menschen, die sie unterstützen, werden zunehmend kriminalisiert.«
Wer begründet mit angeblichem Klimaschutz soziale Zumutungen? Welche Nachrichtensendung, welche Talkshow leugnet keine Fakten oder stellt sie nicht zumindest verfälscht dar? Wird die Demokratie nicht vom Kanzler verachtet, der in der EU Einheit erzwingt für den Kriegs- und Aufrüstungskurs, der liberalen Splitterpartei aber gestattet, einen mühsam erkämpften Beschluß zu blockieren, der großen Firmen Kinderarbeit erschwert? Hat nicht soeben die Ampel beschlossen, Geflüchtete zu entrechten und ihre Unterstützer zu kriminalisieren?
»Unser gesellschaftliches Zusammenleben, die Vielfalt und Fairness:
Ja, unsere Demokratie ist in Gefahr.
Doch wir sind entschlossen, laut und aktiv zu werden: für eine offene, demokratische, plurale und solidarische Gesellschaft, gemeinsam gegen den Rechtsruck in Deutschland und Europa! Schweigen ist keine Option! Wir müssen sichtbar und hörbar werden. Die Zeit zu handeln ist jetzt, denn bei den Kommunal‑, Landtags- und Europawahlen in 2024 geht es um viel!«
Genau darum geht es. Protest und Unmut sollen kanalisiert, das Ankreuzen eines Wahlzettels als Lösung akzeptiert werden. Für ein Europaparlament, das noch nicht einmal ein Recht zu Gesetzesinitiativen hat. Für Parteien, die sich in wesentlichen Fragen von Krieg und Frieden, Subventionen für die, denen es ohnehin gut geht, und Kürzungen für den Rest einig sind. Die sich allenfalls darin unterscheiden, ob Kriege im Namen Deutschlands, der EU oder im Auftrag der USA zu führen sind. Und ja, die über Geschwindigkeit und Ausmaß von "Remigration" uneins sind.
»Jetzt sind wir ALLE gefragt:
Für Solidarität und Respekt, gegen Hass und Hetze
Für Gerechtigkeit und Toleranz, gegen Spaltung
Für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt, für Menschenwürde, gegen Ausgrenzung
Für Selbstbestimmung und Humanität, Menschenrechte für Alle, gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«
(Hervorhebungen in blau nicht im Original.)
Wo wart ihr, als…
Die Frage danach, wo alle diese Organisationen und Menschen standen, als es um Grundrechtsschleifungen in der Coronazeit ging, ist verlockend. Ihre Berechtigung ist kaum von der Hand zu weisen, sie bleibt aber unproduktiv. Denn jegliche Bewegung kann derart aus dem Schweigen anderer oder deren Gegnerschaft zu ihren Forderungen Vorwürfe erheben. (Wo waren die Bauern, als es gegen den Krieg ging, wo waren die Coronakritiker, als es um Arbeitsplätze im Gesundheitswesen ging, wo waren die Klimafreunde, als es um den Hunger in der Welt ging etc. pp.)
Wichtiger ist es zu prüfen, ob ein berechtigtes Anliegen zu sinnvollem Handeln führt oder instrumentalisiert wird, um gegenwärtiges Regieren zu legitimieren. Die Besorgnis über in Europa zunehmende Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Verfolgung von nicht dem konservativen Familienbild entsprechenden Lebensweisen teile ich. Hier gibt es einen unübersehbaren Gegensatz zu wichtigen Figuren der Coronakritik wie Reitschuster, Homburg und anderen.
Es ist nicht ausgemacht, ob die Bewegung der vielen Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, eine Eigendynamik entfaltet. Denkbar ist, daß sie wieder privatisieren, nachdem sie sich als „Gute“ gegenseitig zu erkennen gegeben und der „guten Regierung“ Absolution erteilt haben. Vorstellbar ist aber auch, daß einige von ihnen sich der nächsten Abschiebeaktion bei Nacht und Nebel entgegenstellen. Oder, denn der Sozialrassismus von staatlicher Seite wird zunehmen, Zwangsräumungen verhindern. Nicht auszuschließen und wünschenswert ist es, daß sie sich gemeinsam gegen die sozialen Grausamkeiten der Herrschenden wenden. Denn diese sind, neben einer faschistoiden Grundhaltung, die nicht nur extrem rechts geortet werden kann, eine wesentliche Ursache für den Hang zu autoritären, ausgrenzenden, menschenfeindlichen Lösungen.
Vorerst deutet nicht allzu viel auf eine emanzipative Entwicklung hin. Schließlich sind es nicht zuletzt die Obrigkeit, Regierungsparteien und Medien, die für die Demonstrationen mobilisieren. Das ist wahrlich ungewöhnlich. Verglichen mit Bauernprotesten und Streiks, Aktionen gegen den Sozialkahlschlag, verschärftes Polizeirecht und Kriegskurs, fällt die wohlwollende Berichterstattung, ja Werbung, ins Auge.
Drohte tatsächlich eine Machtübernahme von Faschisten und wäre eine „Läuterung“ von Medien und Parteien erkennbar, könnte man dies für erträglich halten. Von beidem ist nicht auszugehen. Die Meinungsmache aber für Militarisierung, Überwachung und sozialpolitische Grausamkeiten läuft weiter auf Hochtouren. Die bigotte Haltung zu terroristischer Kriegsführung auf allen Seiten im Nahen Osten, die Verweigerung humanitärer Hilfen, die Päppelung von Konzernen im Namen von Gesundheit, Klima, Standortstärkung, abenteuerliche und sündhaft teure geopolitische Ambitionen gehen weiter. Wer kritiklos „unsere Demokratie“ oder angeblich sonstige westliche Werte verteidigt, trägt zu einer Stärkung der Rechten bei.
Hier liegt m.E. des Pudels Kern in Deinen Überlegungen, lieber Artur:
"Vorerst deutet nicht allzu viel auf eine emanzipative Entwicklung hin. Schließlich sind es nicht zuletzt die Obrigkeit, Regierungsparteien und Medien, die für die Demonstrationen mobilisieren. Das ist wahrlich ungewöhnlich. Verglichen mit Bauernprotesten und Streiks, Aktionen gegen den Sozialkahlschlag, verschärftes Polizeirecht und Kriegskurz, fällt die wohlwollende Berichterstattung, ja Werbung, ins Auge."
Dein Argument, dass es unproduktiv sei zu fragen: "Wo wart ihr, als", leuchtet mir ein.
– Und das kann ich nur zähneknirschend zugeben, denn das Versagen derer, die nun auf die Straße gehen, während der Corona-Zeit erscheint mir 'größer' als mein eigenes, als es um den "Hunger in der Welt" oder den Mietenwucher ging (worum es freilich auch immer noch geht), wovor ich aber nach wie vor versage.
– 'Größer', weil für meine Begriffe da eine neue Dimension des Versagens auf den Plan trat: faschistoide gefärbtes Versagen. (Aber das könnte auch nur der Versuch sein, mein eigenes Versagen kleinzureden – oder: schönzufärben; muss ich noch länger drüber nachdenken.)
Einstweilen also lasse ich mich von Deinem Argument des unproduktiven Vorwurfes überzeugen.
Dennoch haben diese "Demonstrationen" eine neue 'Qualität' und die hast Du in der von mir zitierten Passage klar benannt:
Sie sind regierungskonform, ja: sind von regierungsnahen (-finanzierten …) gesellschaftlichen Akteuren sogar initiiert und werden werbewirksam von den regierungsnahen (-finanzierten …) Medien aufbereitet und in Endlosschleife über die Medienkonsumenten ausgegossen.
Ich komme aus dem Westen.
Mich ekelt diese traute Zweisamkeit von Exekutive und Souverän einfach nur an – mal abgesehen davon, dass sie mir hochsuspekt erscheint und an die entsprechenden Aufmärsche in sogenannten "sozialistischen Diktaturen" (die nie "sozialistisch" waren!) erinnert.
Und ich frage mich: Wie kann man so dumm sein, zusammen mit einer Regierung gegen das auf die Straße zu gehen, was diese Regierung (und ihre Vorgängerinnen) zu verantworten haben?!
PS: Außerdem bin ich mir sicher, dass sich dort v.a. die Grünen-WählerInnen (und ein paar übriggebliebene SPDlerInnen) tummeln. Denn die dürften mittlerweile mehrheitlich staatlich alimentiert, also im öffentlichen Dienst beschäftigt, oft verbeamtet sein (bzw. ihre Eltern … – die vielen jungen Leute auf diesen "Demonstrationen" zeugen wieder einmal vom schrecklichen Versagen meiner Generation bei Pisa und Bologna).
Und diese Personen merken noch wenig bis gar nichts von den katastrophalen Auswirkungen dessen, was unsere Regierungen seit Jahrzehnten im großen Stil verbocken und verzocken.
PPS: Eins noch, ein bissl psychoanalytisch gedacht:
Es könnte noch hinzukommen, dass bei denen, die da nun "Hand in Hand" mit den Machthaberinnen&Machthabern auf die Straßen gehen, unbewusst angekommen ist, dass sie sich fast drei Jahre lang durch erlogene Panik haben verarschen und zu "braven SofaheldInnen" haben dressieren lassen …
Vielleicht haben sie jetzt was "nachzuholen", denn "Demo" ist ja immer irgendwie "nicht brav", sondern gerade "mutig" und "subversiv", gelt?
(Was mich da echt wundert angesichts der Tatsache, dass in vielen Kommunen keine Intensivbetten-Kapazitäten mehr frei sind – anders als zu C‑Zeiten übrigens: Wo ist deren Sterbe-Panik nun eigentlich hin?! Stehen da dicht an dicht und ohne Maske, als sei kein Corona-Virus in der Welt … [allein das sollte man mal wirklich psychoanalytisch aufarbeiten!])