Viele Spekulationen hat die Formulierung aus dem Protokoll vom 16.3.20 hervorgerufen, in dem festgelegt wurde, daß die Risikobewertung "hochskaliert" werde, sobald ein Signal von einer Person vorhanden sei, deren Name im Text geschwärzt wurde.
Wer auch immer das gewesen sein mag, es ist interessant nachzuvollziehen, wie sich die Risikobewertung bis zum 17.3.20 entwickelte. An diesem Tag – das Signal war offenbar gegeben worden – verwendete das RKI erstmals den Begriff "Risikoeinschätzung". Sie sei hoch. Die Rede war von "7.156 laborbestätigte[n] SARS-CoV-2-Infektionen" (rki.de). Was hatte sich geändert? Schauen wir in die Protokolle.
Am 16.1.20 wird das Risiko als gering bzw. sehr gering angegeben. Am 22.1. ist es gering, "einzelne Fälle" könnten aber importiert werden. Am 19.1.20 kontaktiert Jens Spahn den Generalarzt Hans-Ulrich Holtherm, um ihn wenig später zum Leiter des Krisenstabs seines Ministeriums zu ernennen (s. hier).
"Aktuelle Diskrepanz zwischen der WHO-Einschätzung und der des RKI"
Ab dem 29.1.20 gibt es den TOP "(Aktuelle) Risikobewertung". An diesem Tag gibt es vier Fälle und diese Beurteilung:
Am 4.2.20 lesen wir (nicht):
"Vermeintlich asymptomatische Indexpatientin"
Am 5.2.20 heißt es unter dem TOP zur Situation in China: "Es
ist kein exponentieller sondern eher ein linearer Anstieg zu sehen". Hier findet sich auch die Erwähnung der "vermeintlich asymptomatische[n] Indexpatientin". Auf diesen Passus wird zurückzukommen sein: "ToDo: Fertigstellung der Kriterien für Risikobewertung (Entscheidung hierzu am 04.02.2020)".
Vermutlich interessante Erläuterungen wird es am 6.2.20 gegeben haben. Neben anderen Schwärzungen finden wir hier:
"Eskalationsmöglichkeit ist notwendig"
Trotz geringen Risikos heißt es am 24.2.20:
Wieder gänzlich geschwärzt ist der TOP am 5.3.20. So ist nicht erkennbar, welche Änderung am 9.3.20 gemeint ist:
Erneut, diesmal detaillierter, wird das genannte Papier "Rationale Risikobewertung" erwähnt. Einen Tag später ist von "Finalisierung Dokument 'Rationale Risikobewertung'" die Rede. Update: Die ganze Passage lautet: "Finalisierung Dokument 'Rationale Risikobewertung' fertiggestellt und BMG zugestellt, BMI war auch interessiert" (Dok. 72).
WHO erklärt Pandemie, RKI bleibt gelassen. 1.089 "Fälle" in D, auch mit Schnupfen
Der Hinweis auf das "ECDC Rapid Risk Assessment" könnte die oben genannten Diskrepanzen mit der WHO betreffen. Schließlich werden in diesem Protokoll für die ganze WHO EURO Region 19.540 "Fälle" und 732 Tote gemeldet. Für die BRD heißt es:
Warum wohl die Zahl der Pneumonien künftig verschwiegen werden soll?
Wer hat am Wochenende die neue Risikobewertung vorbereitet?
Am 16.3.20 dann die berühmte Hochskalierung, über die Lars Schaade berichtet:
Wie erwähnt, sprach das RKI einen Tag später erstmals von einem hohen Risiko. In den veröffentlichten Protokollen gibt es, jedenfalls in den ungeschwärzten Teilen, keine Hinweise auf die Gründe dafür. Ob sich die Behauptung der Anwaltskanzlei des RKI halten lassen wird, bleibt spannend. Sie hatte dem klagenden "Mulitpolar-Magazin" mitgeteilt:
"Rationale Risikobewertung"
In diesem Zusammehang könnte das erwähnte Papier "Rationale Risikobewertung" brisant sein. Es sollte vom FG 36 erstellt und öffentlich verfügbar gemacht werden. Das Fachgebiet 36 trägt den Namen "Respiratorisch übertragbare Erkrankungen". Es heißt auf der Webseite:
»Das Fachgebiet ist zuständig für die Surveillance, Kontrolle, epidemiologische Forschung und Entwicklung von Präventionskonzepten zu respiratorisch übertragbaren Krankheiten. Der derzeitige Schwerpunkt liegt auf Influenza, Tuberkulose und Legionellose.
Das Fachgebiet berät darüber hinaus die Fachöffentlichkeit und unterstützt die Länder bei der Aufklärung von Krankheitsausbrüchen durch respiratorisch übertragbare Erreger…«
Die Liste ausgewählter Publikationen des FG endet dort im November 2019… Eine Suche auf den Seiten des RKI und allgemein im Netz bringt das Dokument nicht zum Vorschein.
Das FG 36 war allerdings, neben dem "Konsiliarlaboratorium für Coronaviren (Institut für Virologie, Charité)" – Leiter ist Christian Drosten – und anderen, beteiligt an der Erarbeitung dieses Dokuments:
Dort ist im Kapitel "Kontinuierliche Risikoeinschätzung" zu lesen:
»Das Robert Koch-Institut führt eine kontinuierliche Risikoeinschätzung des COVID-19-Geschehens durch…
Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass die virologischen, epidemiologischen und klinischen Informationen größtenteils nicht oder noch nicht verlässlich vorhanden sind, wenn die Risikoeinschätzung und
Entscheidungen über Maßnahmen erfolgen sollen, daher ist es notwendig, dass die Risikoeinschätzung fortwährend mit den jeweils verfügbaren Informationen ergänzt und neu bewertet wird.
Nationale strukturierte Schwereeinschätzung gemäß den Vorgaben der WHO
Die WHO hat unter Mitarbeit des Robert Koch-Instituts für die Schwereeinschätzung einer Influenzapandemie ein Tool entwickelt (Pandemic Influenza Severity Assessment Tool, PISA-Tool), dass von verschiedenen Ländern, u.a. Deutschland, seit mehreren Jahren während saisonaler Grippewellen angewendet wird.
Neben der kontinuierlichen nationalen Schwereeinschätzung bietet dieses Instrument die Möglichkeit, der WHO in einer strukturierten und standardisierten Weise die nationale Einschätzung mitzuteilen. Die WHO wiederum wird die globale Risiko- und Schwereeinschätzung einer Pandemie anhand der Informationen aus den UN-Mitgliedsländern vornehmen…«
Erinnern wir uns an die Einschätzungen des RKI vor dem 17.3.20. Das Risiko wurde als niedrig oder allenfalls mäßig bewertet. Wurde dies "der WHO in einer strukturierten und standardisierten Weise" mitgeteilt?
Tägliche Risikoeinschätzung
Weiter ist zu lesen:
»Aktuelle Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts zum COVID-19-Geschehen
Angesichts des dynamischen Geschehens wird hier auf die täglich bewertete, aktuelle Risikoeinschätzung des RKI hingewiesen: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html«
Dummerweise gibt es diese Seite nicht mehr. Auf web.archive.org ist der am 16.3.20 veröffentlichte Stand abrufbar. Dort heißt es:
»"Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als mäßig eingeschätzt… Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern.«
Zu diesem Zeitpunkt war das Wochenende gerade vorbei, als die Lage "hochskaliert" wurde. Allein, die neuen Erkenntnisse bleiben im Dunklen. Lediglich, daß jemand ein Signal dafür erteilt hat, der unbekannt bleiben soll, steht fest. Noch am 17.3.20 um 00.59 Uhr war von eine mäßigen Gefahr zu lesen. Um 11.42 Uhr ist die Gefahr dann hoch. Verlinkt wird in beiden Versionen auf ein ebenfalls nicht mehr beim RKI vorhandenes Dokument, das den Stand vom 13.3.20 wiedergibt. Es trägt den Titel "COVID-19: Grundlagen für die Risikoeinschätzung des RKI". Dort ist zu lesen:
»Das Robert Koch-Institut erfasst kontinuierlich die aktuelle Lage, bewertet alle Informationen und schätzt das Risiko für die Bevölkerung in Deutschland ein. Die Risikobewertung wird durch den RKI-Krisenstab formuliert und situativ adaptiert. Die aktuelle Risikoeinschätzung ist abrufbar unter: www.rki.de/covid-19-risikobewertung.
Die Risikoeinschätzung ist die Beschreibung und Einschätzung der Situation für die Bevölkerung in Deutschland. Sie bezieht sich nicht auf die Gesundheit einzelner Individuen oder spezieller Gruppen in der Population und nimmt auch keine Vorhersagen für die Zukunft vor…
Bei der Risikobewertung handelt es sich um eine deskriptive, qualitative Beschreibung. Den für die verwendeten Begriffe “gering“, „mäßig“, „hoch“ oder „sehr hoch“ liegen keine quantitativen Werte für Eintrittswahrscheinlichkeit oder Schadensausmaß zugrunde. Allerdings werden für die Schwerebeurteilung ( = Schadensausmaß) genutzten drei Kriterien bzw. Indikatoren (Übertragbarkeit, Schwereprofil und Ressourcenbelastung) mit jeweils quantifizierbaren Parametern beurteilt. Entwickelt und erprobt wurde dieser Ansatz zur Beurteilung der Schwere von saisonalen Grippewellen in Deutschland…
Insbesondere in den ersten Wochen sind Daten relevant, die außerhalb Deutschlands erhoben wurden. Zusätzlich werden mehr und mehr Informationen zu bestätigten Fällen in Deutschland in die Risikoeinschätzung einbezogen…«
(Hervorhebungen in blau nicht in den Originalen.)