Antisemitisch? "Vor dem Gesetz sind alle gleich"

Ganz so weit geht Reinhard Müller, Jurist und Reserveoffizier, in einem Kommentar der "FAZ" am 21.11.24 nicht. Zwar ist es in die­sem Land üblich, selbst jüdi­sche Menschen des Antisemitismus zu bezich­ti­gen, wenn sie der deut­schen Staatsräson nicht fol­gen mögen, doch ver­mei­det Müller die ent­spre­chen­de Bewertung der israe­li­schen Regierung. Sein Text steht unter der Überschrift "Haftbefehl für Netanjahu: Gegen Terroristen und Demokraten in einem Aufwasch". Er schreibt:

»… Bisher war der Gerichtshof in der Praxis lan­ge allen­falls ein Tribunal für afri­ka­ni­sche Despoten. Auch Gewaltherrscher Putin ist im Visier. Wer woll­te in der Sache etwas dage­gen sagen?

Eine neue Dimension

Der Haftbefehl gegen den israe­li­schen Ministerpräsidenten stößt da in eine ande­re Dimension vor. Netanjahu ist Regierungschef eines demo­kra­ti­schen Rechtsstaats, der den Strafgerichtshof ablehnt – über des­sen Zuständigkeit für den „Staat Palästina“ man im Übrigen strei­ten kann. Vor allem Deutschland, wich­ti­ger Geburtshelfer des Nachfolgers des alli­ier­ten Nürnberger Militärtribunals, ist jetzt gezwun­gen, Flagge zu zei­gen. Es steht zwi­schen der Pflicht, den Haftbefehl voll­strecken zu hel­fen, und sei­ner selbst erklär­ten Staatsräson. Die umfasst sicher nicht die Duldung mög­li­cher israe­li­scher Verbrechen, die bei Weitem nicht nur Den Haag in dem Vorgehen gegen Zivilisten erkennt…

In einem Aufwasch wer­den Haftbefehle gegen Massenmörder und Regierungsmitglieder eines demo­kra­ti­schen Rechtsstaats bekannt gege­ben. Der Strafgerichtshof darf sich nicht wun­dern, wenn ihm bis­her treue west­li­che Staaten die Gefolgschaft ver­wei­gern – und die Feinde von Recht und Freiheit ihm zujubeln…«

Man kann das Geifern nen­nen oder mil­de die Verkennung welt­po­li­ti­scher Entwicklungen. Die wah­re Zeitenwende macht sich nicht nur auf Konferenzen wie der der G‑20 bemerk­bar. Sie besteht dar­in, daß wei­te Teile der Welt nicht mehr gewillt sind, nach der Pfeife des Westens zu tan­zen. Dazu gehört auch der Bruch mit der lang­jäh­ri­gen Praxis, nur "afri­ka­ni­sche Despoten" und den "Gewaltherrscher Putin" juri­stisch zur Rechenschaft zu ziehen.

Massenmord, ja Völkermord, und "demo­kra­ti­scher Rechtsstaat" schlie­ßen sich nicht aus. Das wis­sen die Menschen im glo­ba­len Süden nicht erst seit den Indochinakriegen der USA und dem Apartheidsregime Südafrikas. Sie kön­nen nicht ver­ges­sen, daß NATO und Bundesregierung stets treue Verbündete bei die­sen Verbrechen waren.

Die Deutungshoheit des Westens dar­über, was Demokratie und Recht zu sein hat, ist pas­sé. Eine EU, in der das Parlament ledig­lich abnicken darf, was die Regierungen ihnen als Führung vor­set­zen, taugt nicht mehr als Vorbild für ein demo­kra­ti­sches System. SpitzenpolitikerInnen wie von der Leyen und Lauterbach kön­nen zugun­sten der Pharmaindustrie Milliardenschäden an ihren Volkswirtschaften anrich­ten, ohne dafür zur Rechenschaft gezo­gen zu wer­den. Wie will man dann Korruption und feh­len­de Rechtsstaatlichkeit woan­ders kritisieren?

Die EU und ihre Mitgliedsländer fei­ern sich in obszö­ner Weise als Friedensmacht, wäh­rend sie alles dar­an­set­zen, einen so mör­de­ri­schen wie aus­sicht­lo­sen Krieg in der Ukraine anzu­feu­ern. Sie haben ihn nicht begon­nen, aber sie sind nicht unschul­dig an ihm. Auch Israel kann für sich in Anspruch neh­men, ange­grif­fen wor­den zu sein. Doch auch der Konflikt im Nahen Osten hat eine Vorgeschichte, die nicht aus­ge­blen­det wer­den kann. Aus vie­ler­lei Gründen sehen wir aber eine unein­ge­schränk­te Parteinahme für eine Seite. Sie hat, ver­gleich­bar den Coronaentscheidungen, wenig mit Werten zu tun, aber viel mit Industriepolitik und Profiten, sie­he etwa Die Jahresgespräche des Paul-Ehrlich-Instituts mit dem Verband for­schen­der Arzneimittelhersteller.


Ein Kollege Müllers ist unter der Überschrift "Was wird Netanjahu und Gallant vor­ge­wor­fen?", eben­falls am 21.11.24 auf faz​.net, vol­ler Verständnis für die israe­li­sche Regierung. Unter einer ange­sichts der ziel­ge­rich­te­ten Bombardierung von Krankenhäusern zyni­schen Zwischenüberschrift ist zu lesen:

»Unterversorgung der Krankenhäuser im Gazastreifen

Der Punkt ist für die Bewertung inso­fern wich­tig, als der Tatbestand vor­aus­setzt, dass die Aushungerung gera­de als Mittel ein­ge­setzt wird, um die eige­nen Kriegsziele zu errei­chen. In Israel trifft das einen heik­len Punkt: Dort steht die Regierung gera­de von der ande­ren Seite unter Druck, da es wei­te Teile der Gesellschaft schwer erträg­lich fin­den, Hilfe in den Gazastreifen zu las­sen, wäh­rend dort wei­ter­hin rund hun­dert israe­li­sche Geiseln fest­ge­hal­ten wer­den, von denen ein gro­ßer Teil noch am Leben sein soll.

Gegenüber den inter­na­tio­na­len Kritikern hat­te Israels Regierung immer wie­der auf die prak­ti­schen Hindernisse ver­wie­sen, etwa, dass die Hilfstransporte auf Waffen durch­sucht wer­den müss­ten und die Konvois oft wegen aktu­el­ler Kämpfe nicht pas­sie­ren könnten…

Die Haager Richter… sehen zudem „hin­rei­chen­de Gründe für die Annahme“, dass der Mangel Lebensbedingungen geschaf­fen habe, „die dar­auf aus­ge­rich­tet waren, einen Teil der Zivilbevölkerung in Gaza zu ver­nich­ten, was zum Tod von Zivilisten, ein­schließ­lich Kindern, auf­grund von Unterernährung und Austrocknung führte“.

Durch die ihnen vor­lie­gen­den Indizien sehen die Richter zwar noch nicht das Verbrechen der „Ausrottung“ erfüllt, das Chefermittler Khan eben­falls ange­führt hat­te und das dem Völkermordvorwurf straf­recht­lich nahe kommt; den Tatbestand von Mord als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen sie aber als hin­rei­chend wahr­schein­lich…«

Der Autor macht sich den­noch offen­bar die Meinung des israe­li­schen Präsidenten zu eigen, mit der er sei­nen Artikel beendet:

»[Die Entscheidung] "igno­riert die grund­le­gen­de Tatsache, dass Israel bar­ba­risch ange­grif­fen wur­de und die Pflicht und das Recht hat, sein Volk zu ver­tei­di­gen. Sie igno­riert die Tatsache, dass Israel eine leben­di­ge Demokratie ist, die nach dem huma­ni­tä­ren Völkerrecht han­delt und gro­ße Anstrengungen unter­nimmt, um die huma­ni­tä­ren Bedürfnisse der Zivilbevölkerung zu befrie­di­gen.“ Der Beschluss habe „die Seite des Terrors und des Bösen gewählt“ und das Rechtssystem zu einem „mensch­li­chen Schutzschild für die Menschlichkeitsverbrechen der Hamas“ gemacht.«


Eine Meldung auf tages​schau​.de vom 21.11.24 lau­tet (ein schö­ner Gruß an die Trumpfreunde!):

»US-Senat ver­hin­dert Blockade von Waffenlieferungen an Israel
Der US-Senat hat sich mit gro­ßer Mehrheit gegen eine Blockade von Lieferungen bestimm­ter Waffensysteme an Israel aus­ge­spro­chen. Dabei ging es kon­kret um eini­ge Munition für Panzer-Geschütze und Granatwerfer sowie Lenk-Vorrichtungen für Bomben. Die drei Resolutionen wur­den von einer Gruppe von Demokraten und dem mit ihnen Verbündeten unab­hän­gi­gen Senator Bernie Sanders ein­ge­bracht, die mit der Position des eben­falls demo­kra­ti­schen Präsidenten Joe Biden unzu­frie­den sind. Den Vorschlägen wur­den schon vor der Abstimmung kei­ne Erfolgschancen eingeräumt.«

Und eine vom 18.11.24:

»Scholz: Deutschland wird Israel wei­ter Waffen liefern
Bundeskanzler Olaf Scholz hat bekräf­tigt, dass Deutschland Israel auch wei­ter mit Waffen unter­stüt­zen wird. "Israel hat das Recht, sich zu ver­tei­di­gen", sag­te er der bra­si­lia­ni­schen Zeitung Folha de Sao Paulo. "Dabei kön­nen sich unse­re israe­li­schen Partner auf die Solidarität Deutschlands ver­las­sen", beton­te Scholz. "Dazu gehört auch, dass wir die Verteidigungsfähigkeit Israels etwa mit der Lieferung von Waffen und Rüstungsgütern sicher­stel­len."…«
tages​schau​.de (18.11.24)

4 Antworten auf „Antisemitisch? "Vor dem Gesetz sind alle gleich"“

  1. «Auch Israel kann für sich in Anspruch neh­men, ange­grif­fen wor­den zu sein. Doch auch der Konflikt im Nahen Osten hat eine Vorgeschichte, die nicht aus­ge­blen­det wer­den kann.» (aa)

    Nicht ein­fach eine Vorgeschichte, son­dern auch eine poli­ti­sche Ökonomie. Vllt. ist die Analyse der israe­li­schen Ökonomen Shimshon Bichler und Jonathan Nitzan von Interesse.

    The Road to Gaza 1: The Role of Supreme-God Churches
    (Working Papers on Capital As Power, N°2024/01)
    https://​bnar​chi​ves​.yor​ku​.ca/​8​30/

    The Road to Gaza 2: The Capitalization of Everything (Working Papers on Capital as Power, N°2024/04)
    https://​bnar​chi​ves​.yor​ku​.ca/​8​33/

  2. Surrogatsverhalten

    Dass man jüdi­sche Leute "anti­se­mi­tisch" schimpft, liegt dar­an dass man den Fehler selbst nicht bemerkt. Jetzt darf man drei­mal raten wer der­art igno­rant sein könnte.

    Die Krise lehrt mich lau­ter Fremdwörter. Nicht schlecht.

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