Gute Frage, kaum Antworten

zeit​.de (23.9.24, Bezahlschranke)

Merkwürdig an der Analyse mit man­chen rich­ti­gen Erkenntnissen ist, daß die Autorin para­do­xes Wahlverhalten nur bei den Stimmen für die AfD sehen will.

»Die AfD ist gegen einen höhe­ren Mindestlohn, möch­te das Bürgergeld ein­schrän­ken und statt­des­sen die Erbschaftsteuer abschaf­fen. Populistische Parteien set­zen sich sel­ten für Geringverdiener ein…

Trotzdem gibt die AfD vor, die Partei der Durchschnittsbürger zu sein und vor allem für die­je­ni­gen Politik zu machen, die kaum Vermögen haben und wenig ver­die­nen. Eine Rhetorik, die ankommt. Viele Menschen wäh­len mit­un­ter aus Angst vor Altersarmut die AfD, zeigt eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung…

Solche Aussagen schei­nen der­zeit nur des­halb so gut anzu­kom­men, weil vie­le Menschen unzu­frie­den sind. "Man wird aus Frust und Enttäuschung emp­fäng­li­cher für popu­li­sti­sche Parteien", sagt Neumeier. Dieser Frust speist sich laut dem ifo-Experten aus der wei­ter zuneh­men­den Ungleichheit. Deutschland zählt mitt­ler­wei­le du den fünf Ländern mit der grö­ßeten Vermögensungleichheit in Europa

Daten der Europäischen Zentralbank (EZB) zei­gen sogar, dass Deutschland so ungleich ist wie kein ande­res euro­päi­sches Land. Hierzulande besit­zen die reich­sten fünf Prozent rund 48 Prozent des Gesamtvermögens…

Die Hans Böckler Stiftung konn­te zei­gen, dass vie­le Angestellte in Ostdeutschland nicht nach Tarif bezahlt wer­den und somit nicht nur schlech­ter ent­lohnt, son­dern auch sel­te­ner für den Urlaub oder zu Weihnachten bezu­schusst werden…

Kaum ostdeutsche Vermögende

Dass der durch­schnitt­li­che west­deut­sche Haushalt mit 121.500 Euro etwa dop­pelt so wohl­ha­bend ist wie der in Ostdeutschland mit knapp 50.000 Euro, stell­te das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) bereits 2019 fest. Auch besit­zen Ostdeutsche sel­te­ner Immobilien als Westdeutsche. Das gilt sogar in den ost­deut­schen Großstädten: In Leipzig gehö­ren 70 Prozent der Eigentumswohnungen Menschen aus Westdeutschland… 

Wenn Finanzminister Christian Lindner beschließt, mit der Schuldenbremse Milliarden ein­zu­spa­ren, ver­zwei­feln die mei­sten bei sol­chen Nachrichten nicht sofort. Allerdings wir­ken sich die­se finan­zi­el­len Entscheidungen lang­fri­stig direkt und spür­bar auf das täg­li­che Leben vie­ler aus…

Außerdem bestimmt die Finanzpolitik, wie der Besitz in Deutschland ver­teilt wird. Zum Beispiel gibt es seit dem Jahr 1997 kei­ne Vermögenssteuer mehr. Gleichzeitig wer­den Unternehmen teil­wei­se von der Erbschaftsteuer befreit. Das Vermögen vie­ler deut­scher Milliardäre, wie der BMW-Erbin Susanne Klatten oder dem Lidl-Gründer Dieter Schwarz, fußt aber auf Unternehmen und Kapitalbesitz wie Aktien. Das sorgt dafür, dass Milliardäre steu­er­lich bes­ser gestellt sind als Menschen aus dem Mittelstand…«

Das sind rich­ti­ge Beobachtungen, wobei sie nicht nur auf Ostdeutschland zutref­fen. Das Dargestellte wur­de mög­lich, weil schon lan­ge nicht nur Geringverdienende ihre Stimme gegen ihre Interessen abga­ben. Vielleicht mit Ausnahme der Linkspartei will an den beschrie­be­nen Verhältnissen kei­ne Partei, wie auch die AfD, etwas ändern. Deren gegen­wär­ti­ger Vorteil wie der des BSW ist: Sie war noch an kei­ner Regierung betei­ligt. Mit allen ande­ren Parteien haben die WählerInnen eher schlech­te Erfahrungen machen müs­sen. Ihre irra­tio­na­le Hoffnung, es wer­de etwas bes­ser, weil fri­scher Wind und Aufräumen ver­spro­chen wird, hat so wenig eine Grundlage wie der Glaube dar­an, daß tra­di­tio­nel­le Parteien etwas "für unser Land" und "die da unten" errei­chen woll­ten. Schließlich ist es absurd zu erwar­ten, die beschrie­be­nen Ungleichheiten änder­ten sich dadurch, daß Grenzen abge­rie­gelt und Menschen aus­ge­wie­sen werden.

"Deutschland den Deutschen, Ausländer raus", läßt sich heu­te auf hip­pe Rhythmen in Edel-Restaurants genau so grö­len wie auf Wahlsiegfeiern. Daß damit eine Gemeinsamkeit der genann­ten Multimilliardäre und pre­kär leben­der Menschen ima­gi­niert wird, fällt dabei nur weni­gen auf. Wie bei Corona wird ein Volksganzes phan­ta­siert, das sich, um Lockdowns und Schulschließungen zu ver­mei­den, gegen eine Minderheit, in dem Fall der "Impfverweiger", weh­ren muß. Damals stell­ten nur weni­ge die Frage, ob dabei die Interessen von Biontech und der Telekom iden­tisch mit denen der mei­sten Menschen waren. Auch heu­te wird von sol­chen Themen abge­lenkt, indem Sündenböcke prä­sen­tiert wer­den. Sie waren und sind stets aus­tausch­bar, kön­nen JüdInnen sein oder "Sozialschmarotzer", "Russenknechte" oder eben Menschen ohne deut­schen Paß. Noch nicht lan­ge vor­bei ist die Zeit, da ein Impfpaß den Unterschied machte.

Die Antworten in der "Zeit"-Analyse sind nicht falsch, erin­nern nur lei­der an Sonntagsreden:

»So könn­te eine Finanzpolitik Gewerkschaften stär­ken, indem sie zum Beispiel Tarifgehälter steu­er­lich pri­vi­le­giert behan­delt. Auch könn­te sie höhe­re Steuern auf beson­ders gro­ße Vermögen ein­füh­ren, wie es die Ökonomin Jirmann for­dert. Sie meint damit zum einen eine Vermögenssteuer von min­de­stens zwei Prozent im Jahr, die sich eben nicht auf Einkommen aus Erwerbsarbeit bezieht. "Es darf kei­ne steu­er­li­chen Ausnahmen bei gro­ßen Erbschaften mehr geben", sagt sie. 

Allein eine Vermögenssteuer hät­te dem deut­schen Staat in den ver­gan­ge­nen 30 Jahren 380 Milliarden Euro ein­ge­bracht. Geld, das Deutschland ein­set­zen könn­te, "um in die Bildung, neue Wohnungen und die Infrastruktur vor allem auf dem Land zu inve­stie­ren", wie Jirmann sagt. Dazu gehö­ren laut Kriwoluzky auch gut aus­ge­stat­te­te Schulen und Universitäten. Damit sich dort weni­ger Menschen benach­tei­ligt füh­len und weni­ger für popu­li­sti­sche Parteien stim­men.«

Der Pferdefuß ver­steckt sich im letz­ten Satz. So lan­ge brav die bis­her regie­ren­den Parteien gewählt wer­den, scheint es kei­nen Handlungsbedarf zu geben. Zumal sich anschei­nend Menschen auch nur benach­tei­ligt fühlen.

Hier lie­gen zwei Denkfehler vor. Einmal sind die genann­ten Themen zwar wich­tig für die WählerInnen, spie­len aber in den Forderungen der popu­li­sti­schen Parteien kaum eine Rolle oder wer­den system­kon­form beglei­tet. Zum ande­ren neh­men vie­le WählerInnen natio­na­li­sti­sche bis völ­ki­sche Parolen nicht ein­fach nur als bedau­er­li­che Begleitumstände von Protest hin. So wie die Ausgrenzung von "MaßnahmekritikerInnen" nicht nur das Werk von ExtremistInnen in Politik und Medien war, son­dern mas­sen­taug­lich gemacht wur­de, ver­hält es sich in der Migrationsfrage. Da neh­men sich allen­falls in der Wortwahl, und auch da immer weni­ger, die Parteien am rech­ten Rand und die eta­blier­ten nichts.

Beigetragen zu der Situation haben aber auch die dümm­li­chen Demonstrationen "für die Demokratie" und die arro­gan­ten Aufrufe, wäh­len zu gehen, nur bloß nicht blau. Sie haben in ähn­li­cher Weise popu­li­stisch agiert, indem ein­fa­che Antworten auf kom­ple­xe Probleme gege­ben wur­den, und dabei Macht und Interessen aus­ge­klam­mert wurden.

6 Antworten auf „Gute Frage, kaum Antworten“

  1. https://www.t‑online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100494956/afd-hoehenflug-bei-brandenburg-wahl-das-ist-ein-skandal.html

    Dazu mal die­se Meinung. Der Autor hat sich in der so genann­ten "Corona"-Krise vehe­ment und per­ma­nent damit her­vor­ge­tan, alle "Schutz"-Maßnahmen so rich­tig pas­send und ange­bracht zu fin­den, so wie vie­le sei­ner Kollegen und Kolleginnen bei die­sem Portal. Ich woh­ne nicht in Brandenburg, bin in kei­ner Partei, aber wenn ich eine der bei­den erfolg­rei­chen Parteien gewählt hät­te, wür­de ich mich durch sol­chen Meinungskommentar sehr beschimpft und ver­un­glimpft fühlen.

    Zitat:

    Man muss es so klar sagen: Nicht jeder, der die AfD wählt, ist ein Rechtsextremist – aber jeder, der rechts­extre­mi­sti­schen Landesverbänden der AfD zu Wahlerfolgen ver­hilft, ver­sün­digt sich an der frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grundordnung.

    Ende Zitat

    Was heißt "ver­sün­di­gen"?, fra­ge ich. Sollen hier wie­der mal Schuldgefühle erzeugt wer­den so wie in 2020, 2021, 2022, 2023: "Nur wenn sich alle an die Regeln hal­ten, kann die Pandemie been­det wer­den." "Nur wenn sich alle imp­fen las­sen, kann die Pandemie been­det wer­den." "Nur wenn alle Masken tra­gen … " – der Rest der Liturgie ist bekannt.

    Wer hat sich ver­sün­digt? Die Maßnahmenbefürworter oder die Opfer der "Schutz"-Maßnahmen?

    1. @Dunkelziffer: Kann denn Wählen Sünde sein? Wäre mal ein net­tes Remake. Natürlich wer­den in dem Artikel Phrasen gedro­schen und ein Zerrbild der "frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grundordnung" vor­aus­ge­setzt, das nicht ganz zu dem drei­sten Satz paßt: "AfD-Wähler gehö­ren nicht aus­ge­grenzt, aber kon­fron­tiert: Sie soll­ten die Verpflichtung spü­ren, sich für ihre Wahlentscheidung recht­fer­ti­gen zu müs­sen". Wählerbeschimpfung hat schon gegen die NSDAP nicht gehol­fen und taugt schon mal gar nichts, wenn die Schimpfenden inhalt­lich ganz ähn­li­che Positionen ver­tre­ten wie die Geschmähten. Gerade Brandenburg hat gezeigt, daß die WählerInnen eher das Original der Remigrationspolitik wäh­len als die Kopie von Herrn Merz. 

      Zur letz­ten Frage: Man könn­te sie auch umdre­hen. Wer hat sich ver­sün­digt? Die Maßnahmengegner, die jetzt ihrer­seits Sündenböcke stig­ma­ti­sie­ren, und zwar Hand in Hand mit den angeb­lich bekämpf­ten "Altparteien"?

  2. afd = ger­ma­ny first!
    die leu­te iden­ti­fi­zie­ren sich mit ger­ma­ny und über­se­hen, daß ihre ver­elen­dung ger­ma­ny first nicht widerspricht.
    wenn die in/​ausländer weni­ger bür­ger­geld bekom­men, dann stei­gen die ren­ten, die löh­ne, die mie­ten sinken?
    ger­ma­ny first ist der pri­mat des wirt­schafts­wachs­tums als des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen zie­les, dem sich jeder zu unter­wer­fen hat, auch der bür­ger­geld emp­fän­ger, der mie­ter, der rent­ner, der arbei­ter, usw.
    ob "du" eine woh­nung hast, hei­zung, oder so, ist nicht wesentlich.
    ger­ma­ny first ist eine mobil­ma­chung der arbeits­kraft, die durch popu­lis­mus moti­viert wird, zur arbeit gebracht wird.
    man wird in anspruch genom­men, man muß ver­zich­ten, für ger­ma­ny first, wenn deutsch­land wie­der gesund ist, wird man belohnt werden.
    der "kli­ma­wan­del" ist auch popu­li­stisch, weil er ver­zicht for­dert, im namen des Planeten Erde, und damit davon ablenkt, daß auch die welt­ret­tung dem staats­ziel wirt­schafts­wachs­tum dient, auch wenn die rech­nung nicht aufgeht.
    die rüstung ist wirt­schafts­wachs­tum durch ein unge­nieß­ba­res pro­dukt, die rüstung zehrt den ver­zicht auf und ver­langt wei­te­ren ver­zicht, verarmung.
    die rüstung zehrt wirt­schafts­wachs­tum auf, weil sie unpro­duk­tiv ist. das zeug ist schrott.
    man ver­armt für deutsch­land, man läßt sich für deutsch­land imp­fen, man ver­armt fürs kli­ma, für den kampf gegen die tyran­nen, die fein­de der mensch­heit, die ver­skla­ven wol­len, die die frei­heit bedrohen.
    popu­lis­mus sagt dem volk, es wird bes­ser wer­den, wenn wir uns anstren­gen, wenn das virus weg ist, wenn die zei­ten­wen­de geschafft ist, wenn die aus­län­der inte­griert sind, wenn das kli­ma abkühlt, wenn die son­ne scheint.

  3. Btw:

    > Hans Böckler hat sein Leben lang für die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit gekämpft – ein Anliegen, dem die Hans-Böckler-Stiftung bis heu­te ver­pflich­tet ist.

    Sehen Sie, so wer­den wir belo­gen. Denn der Widerspruch zwi­schen gesell­schaft­li­cher Arbeit und pri­va­ter Aneignung des durch gesell­schaft­li­che Arbeit erzeug­ten Mehrwertes ist im Kapitalismus nicht lös­bar. Es ist glei­cher­ma­ßen der Grundwiderspruch einer gan­zen Epoche.

  4. Die Kleinen Leute – also Geringverdiener, Arbeitslose und Habenichtse – haben gelernt, dass sie immer den Kürzeren zie­hen, egal wen sie wäh­len. Und da sie ohne­hin gefickt wer­den, ficken sie halt zurück.

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