Ein skurriler Mail-Verkehr ist dem geleakten Dokumen "AW ID 3581 Re AW Quarantäne besorgniserregende Variante B 1.1.7.msg" vom 10.5.21 zu entnehmen. Einem Journalisten der "Welt" ist aufgefallen:
»… Im Bundesrat wird heute über die Rückgabe von Rechten an Geimpfte und Genesene abgestimmt. Im Gesetz heißt es: Quarantäne für Geimpfte, die Kontaktperson zu einer infizierten Person sind, entfällt. Es sei denn, es handelt sich um eine Virusmutation, die vom RKI als „besorgniserregend“ eingestuft wird.
Jetzt gilt laut RKI ja die britische Mutante als „besorgniserregend“. Die macht mittlerweile ja mehr als 90% der Infektionen aus. Also gilt in der Praxis weiterhin Quarantäne für Geimpfte?…«
In der gerade erst verkündeten "Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung – SchAusnahmV)" (bundesanzeiger.de, 8.5.21) heißt es in § 10 zur Besserstellung von "Geimpften" und "Genesenen":
Erleichterungen gelten nicht bei einem Kontakt "zu einer Person, die mit einer in Deutschland noch nicht verbreitet auftretenden Virusvariante des Coronavirus SARS-CoV‑2 mit vom Robert Koch-Institut definierten besorgniserregenden Eigenschaften infiziert ist".
In dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Dokument "Übersicht und Empfehlungen zu besorgniserregenden SARS-CoV-2-Virusvarianten (VOC)" des RKI wird tatsächlich "B.1.1.7" aufgeführt. Es kommt zu hektischen Mails von Frau Rexroth an die Mächtigen im BMG und die RKI-Leitung:
»Von: Rexroth, Ute
Gesendet: Freitag, 7. Mai 2021 22:55
An: Rottmann-Großner, Heiko ‑61 BMG; Sangs, André ‑611 BMG
Cc: Lars Schaade; nCoV-Lage; Hamouda, Osamah; Haas, Walter; Mehlitz, Joachim-Martin; Kröger, Stefan; Wichmann, Ole; RKI-Pressestelle
Betreff: WG: AW: Quarantäne "besorgniserregende" Variante B.1.1.6
Lieber Herr Rottmann, lieber Herr Sangs,
anlässlich einer (u.g.) Presseanfrage, die uns heute erreichte, sind wir auf eine Unklarheit im Zusammenhang mit der Rechtsverordnung gestoßen:
Im Gesetz heißt es: "Quarantäne für Geimpfte, die Kontaktperson zu einer infizierten Person sind, entfällt. Es sei denn, es handelt sich um eine Virusmutation, die vom RKI als „besorgniserregend“ eingestuft wird." Nun ist die bei uns vorherrschende Variante B 1.1.7. ja nach internationalem Verständnis auch "besorgniserregend". Das RKI orientiert sich an der internationalen Bezeichnung und bezeichnet sie in allen Dokumenten und auf seiner Internetseite als Solche (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Virusvariante.html).
In unserem Kontaktpersonenmanagementpapier nehmen wir B.1.1.7. aber von den anderen "VOC" aus: " Bei Verdacht auf eine Infektion des laborbestätigten Quellfalls mit einer der besorgniserregenden SARS-CoV-2-Varianten, außer der Variante B.1.1.7, ist eine erneute Quarantäne der vollständig geimpften bzw. genesenen Kontaktperson grundsätzlich immer empfohlen."
Damit steht die Empfehlung Kontaktpersonenmanagementpapier scheinbar im Widerspruch zur Verordnung. Das ist aber natürlich nicht gewollt. Wir könnten versuchen, auf der Website klarzustellen, welche VOC KEINE VOC im Sinne der RVO gemäß 28c sind. Das ist kommunikativ sicher nicht ganz einfach und müsste sicherlich auch rechtlich geprüft werden.
Oder ist diese Frage bei Ihnen diskutiert worden und Sie haben bereits eine Lösung?
Viele Grüße,
Ute Rexroth«
André Sangs vom BMG antwortet um 23: 37 Uhr, man könne so verfahren, "wenn Herr Rottmann zustimmt". Der gibt am nächsten Tag um 09:46:26 MESZ ("Gesendet von meinem BlackBerry 10-Smartphone") das Okay. Um 11:17:58 MESZ wendet sich Rexroth an Lars Schaade:
»Lieber Herr Schaade,
Sollen wir also versuchen, eine Klarstellung auf die Internetseite zu stellen, oder muss das noch durch unser Rechtsreferat geprüft werden, ob wir die Verordnung in dem Sinne präzisieren dürfen?…«
Der antwortet mit Zeitstempel "Samstag, 8. Mai 2021 11:30":
»Ich denke, wenn BMG da abgesegnet hat, müssen wir das nicht nochmal rechtlich prüfen.
Aber ist es nicht besser, hier die Ausnahmen aufzuführen, also nicht VOC im Sinne der RVO ist B1.1.7.? So hatten wir es BMG ja auch vorgeschlagen.
Sonst müssen wir hier ständig aktualisieren, denn es werden ja mehr VOC werden, Ausnahmen werden sie aber erst dann, wenn sie sich durchgesetzt haben. Die VOC positiv im Sinne der RVO aufzulisten hätte allerdings den Vorteil, dass keine Unklarheiten aufkommen, wenn UK bereits aus einer VOI eine VOC macht – wir, WHO und ECDC aber noch nicht.
Hat BMG da eine Präferenz?
Gruß
LS«
Nun ist aber wirklich mal Wochenende und erst am Montag "um 08:51:00 MESZ" schreibt Rexroth an Stefan Kröger und die Pressestelle des RKI:
»Lieber Stefan, liebe Pressestelle,
ich glaube, wir müssen das schnell klären.
Was hältst Du/Sie davon, wenn wir in dem Abschnitt unter B.1.1.7 einfach einen Satz ergänzen:
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Virusvariante.html…«
Stefan antwortet "at 9:05 AM CEST":
»Liebe Ute,
finde den Vorschlag sehr gut und sehe aktuell keine bessere Lösung. Bei Nachfragen würden wir auf die hohe Prävalenz (oder das BMG?) verweisen.
Einzig, es könnte mittelfristig zu Problemen mit anderen Varianten die eine ähnliche Charakteristik aufweisen, führen. Ich schlage vor, wir diskutieren das kurz im Krisenstab und können es bei Zustimmung noch heute online stellen.
VG
Stefan«
So wird es gemacht. Seit dem 11.5.21 um 06:33:08 heißt es auf der RKI-Seite, fast wie von Frau Rexroth vorgeschlagen:
»Die Variante B.1.1.7 (20I/501Y.V1) gilt nicht als Virusvariante im Sinne von §10 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung – SchAusnahmV).«
web.archive.org
Rexroth hatte formuliert, die Variante B.1.1.7 "gilt nicht als 'besorgniserregend'".
So rettete Aufmerksamkeit und aufopfernde Nachtarbeit am Wochenende RKI und Gesundheitsministerium vor einer Blamage aufgrund einer mit heißer Nadel gestrickten Verordnung von Jens Spahn.
Das geleakte Dokument gibt es hier.
(Hervorhebungen in blau nicht in den Originalen.)
Rückgaben von Rechten:
In dieser Gesellschaftsordnung bestimmen private Interessen über Berechtigungen und Grundrechte. Das war schon immer so. Neu ist nur die Begründung.